Start Kunst & Kultur Kulturregionen im Portrait: Sankt Marein bei Neumarkt

Kulturregionen im Portrait: Sankt Marein bei Neumarkt

Schloss Lind Foto: Gunilla Plank

Anmerkungen über einen Naturpark, ein ANDERES heimatmuseum, das Festival STUBENrein und den steirischen herbst.

Text: Andreas Staudinger

Eben taucht die aufgehende Sonnenscheibe den Zirbitzkogel in ein gleißendes afrikanisches Rot – ich habe es großzügig „Kilimandscharorot“ getauft, weil dieser Bergzug den großen exotischen Bruder ins Gedächtnis ruft und mit ihm die Kindersehnsucht nach Expeditionen, Tropenhelmen, Hemingway, Joseph Conrad (in ihren Büchern bin ich weit gereist, ins papierene Herz der Finsternis). Zirbitz, der rote Berg, der über dem Neumarkter Hochtal thront, die rote Gegend; ein slawisches Wort, das daran erinnert, dass im Frühmittelalter hier eine andere Sprache gesprochen wurde, die dann noch einmal für eine kurze Zeit zwischen 1942 und 1945 von den russischen Zwangsarbeitern und den tschechischen und polnischen KZ-Häftlingen hierhergebracht wurde. Je älter ich werde, desto mehr Fragen stellt sie mir, die unscheinbare Welt, die mir naheliegt. Schon seit vielen Jahren gehe ich gern spazieren. Ja, ich wandere durch das Naheliegende, flaniere, gehe ganz großzügig mit meiner Zeit (schreibe jetzt nicht: um). Habe nichts Besseres zu tun, als zu gehen, wahrzunehmen und meine Gedanken bei meiner Landnahme zu beobachten, um sie danach besser niederschreiben zu können. Meide, wo es geht, das Automobil, bewege mich lieber selbst. Will nicht mehr fernreisen, um meinen Dreck in fremden Hemisphären zu hinterlassen, bloß mehr das ergehen, was sich von meiner Tür aus mit meinen Füßen bewältigen lässt. Ein Luxus und keine Beschränkung: Ich mag meine Limitierungen, weil ich sie mir selbst auferlege, weil sie mir meine Körpergrenzen zeigen. Das exotisch Ferne lockt nicht mehr, die Exotik des Alltäglichen jedoch ungemein (keine Neugier nach Sensationen, nach tausendmal durchdeklinierten Sehenswürdigkeiten; was wäre das überhaupt, eine Sehensunwürdigkeit?). Eine Stimme mischt sich ein, während ich über diesen Landstrich, diesen Ausschnitt der obersteirischen Welt, zu schreiben versuche, eine Tasse Kaffee neben mir, provoziert mich, regt mich an: Es ist die Stimme von Jerzy Budek, einem der ehemaligen KZ-Häftlinge auf Schloss Lind in Neumarkt, dem Epizentrum meiner Welt, von dem aus ich auf die Welt blicke. Es ist nicht Polnisch, es ist ein amerikanisch eingefärbtes Schuldeutsch, in dem die Stimme über den Atlantik hinweg zu mir über Ersatzkaffee spricht, über die wässrige Brühe, die die SS den Internierten täglich zugestand. Orte wie das Schloss in Neumarkt, in dem ich wohne und arbeite, haben ihre Unschuld verloren, man darf sie nicht unbedacht lassen. Stimmen wie diese gehören zu diesem Ort, zu dieser Region: Man muss sie nur hören wollen. Man muss die vielen Stimmen, die über Orten wie diesem schweben, nur zu Wort kommen lassen. Wenn ich also von Schloss Lind und vom ANDEREN heimatmuseum erzähle, muss ich mich entscheiden, ob ich von einem ehemaligen Konzentrationslager oder bloß einem Schloss spreche. Und je nachdem, worauf ich meinen Focus lege, wird die Erzählung eine andere sein. Für Aramis, meinen Vorgänger und Gründer des ANDEREN heimatmuseums war diese Frage klar zu beantworten: Ganz Kind der Achtundsechziger und des Aktionismus, genoss er es, in den Neunzigerjahren gegen eine regionale Dumpfheit und Selbstvergessenheit anzukämpfen und sich auf eine einzige Lesart des Ortes zu beschränken. Er war ein kompromissloser, kämpferischer Ins-Wespennest-Stecher, der schließlich an den Folgen der vielen Wespenstiche einsam zugrunde ging.

Foto: Guilla Plank

Ich lebe seit 2009 hier und trage gemeinsam mit Britta Sievers für Schloss und Museum Sorge (und nichts anderes tun ja KuratorInnen). Wir haben einen anderen Zugang zu Region und Geschichte gewählt: Schloss Lind ist für uns ehemaliges Konzentrationslager UND Kulturzentrum, Erinnerungs- und Zukunftsraum, Gedächtnis- und Überzeugungsort, ein Labor für Regionalismus. Wir stellen uns, seit wir das ANDERE heimatmuseum übernommen haben, der Frage, wie man richtig „gedenken“ soll, wie man Erinnerung nicht musealisiert, sondern wachhält. Dazu laden wir regelmäßig die unterschiedlichsten KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen ein, mit uns zusammen diesen Prozess des Nie-Vergessens und Trotzdem-vorwärtsDenkens voranzutreiben. Wir sehen diesen Ort als Gesamtkunstwerk, als Spielraum für Erinnerungskunst: Die Dinge (die Mauern, Bilder, Installationen, Bücher), die hier in so großer Fülle vorhanden sind (das Schloss verfügt auf rund tausend Quadratmetern über zahlreiche Gedenkräume, eine Galerie für zeitgenössische ortsspezifische Fotografie, eine Galerie für Erinnerungskunst, eine Galerie für Public Archeology, zwei Performanceräume, eine Wunderkammer der abfallenden Dinge, fünf Bibliotheken und einen großen, verwilderten, anti-autoritären Park, in dem in den nächsten zehn Jahren viele Installationen wachsen sollen), betrachten wir als verweise auf unser Gewordensein. Als Mahnmale für eine schnelle, flüchtige Zeit, die sich im rauscherfüllten Jetzt, in einer permanenten Bespaßung, verausgabt …

Und wir beschränken unser Museum nicht auf einen architektonischen Ort: Mit unserem GEHmuSEHum bewegen wir uns in der gesamten Murauer Region. Nicht umsonst wird das Festival STUBENrein (für das ich auf Einladung der Holzwelt Murau das Konzept entwickelt habe und das ich seit Jahren zusammen mit den beiden Kuratorinnen Gunilla Plank und Uli Vonbank-Schedler durchführe) heuer vom steirischen herbst unterstützt. In jeder Gemeinde der Region Murau bespielen wir zwei Wochen im September (vom 6. bis zum 22. dieses Monats) Orte fernab des etablierten Kunstbetriebs und holen so Menschen zu Hause ab. Heuer sind es beispielsweise eine verlassene Bezirkshauptmannschaft, eine Lkw-Werkstatt, ein Abfallcenter, ein ehemaliges Gasthaus, ein Campingplatz etc. Betrachtet man den etwas altmodischen Begriff der „Stube“ nämlich nicht nur unter einem architektonischen oder historischen Blickwinkel, sondern eher architektursoziologisch, dann reaktiviert man das Wesentliche dieses Begriffs: kleinräumige, mit den Mitteln eines erweiterten Kunstbegriffs befeuerte lebendige Kommunikation über das, was eine Region ausmacht.

Befreit man dann auch noch – gehend, einen Fuß vor den anderen setzend – seine Vorstellung von den pittoresken Naturparkbildern (Landschaft ist ja immer eine Konstruktion, wie Lucius Burckhardt schon vor Jahrzehnten erkannt hat), kann man rund um Schloss Lind viele Entdeckungen machen. Nichts Spektakuläres erwartet einen dann (denn die Grebenzen und die Seetaler Alpen sind nicht so bizarr wie das Gesäuse, die Seen und Teiche nicht so warm wie die in Kärnten, die architektonischen Highlights nicht so sensationell wie anderswo, Stift St. Lambrecht ist nicht Mariazell), sondern bloß eine scheinbare Eigenschaftslosigkeit, die sich jedoch bei genauerer Betrachtung als eigentliche Qualität herausstellt – als eine subtile Exotik des Alltäglichen: die Tankstellen, in denen Bier getankt wird, die kleinen Siebzigerjahre-Gasthäuser, in denen noch gesungen wird, die Bäche, die noch ungestört ihre Windungen haben dürfen, die Reiher, die über die unzähligen Teiche fliegen, die vielen archäologischen Schätze, die verborgen unter der Erde liegen, die vielen noch intakten Bauernhäuser, die wie Glucken auf den Hügeln stehen und einen stillen Don-Quijote-Kampf gegen industrialisierte Großlandwirtschaft führen, die kleinen Industrieareale, die die alten Dorfstrukturen mit einem pseudourbanen Flair umrahmen, die Neubausiedlungen, deren grelle Farben den Wunsch nach Zeitgenossenschaft sichtbar machen. Und nicht die vielen klobigen Holzbücher, die überall stehen, sind das Wesentliche des Naturparks Zirbitzkogel-Grebenzen, in dem das Schloss liegt und dessen Betreiber sich um die Erhaltung der Naturlandschaft hier bemühen, und dafür den Begriff des „Naturlesens“ aufgegriffen haben, sondern die Haltung, die dahinter steht: Natur und Orte vielfältig zu hinterfragen. Jetzt ist mein Kaffee kalt geworden, ist aber mit Sicherheit immer noch besser als die Brühe, die die Nazis unter der Bezeichnung Kaffee Jerzy Budek in den Vierzigerjahren hier vorsetzten.

Andreas Staudinger ist Autor, Regisseur und Kurator. Zuletzt erschienen:
FUSSNOTEN (Wieser).