Start Kunst & Kultur „Lager Liebenau“ – Blick auf einen Ort verdichteter Geschichte

„Lager Liebenau“ – Blick auf einen Ort verdichteter Geschichte

Lagermodell, gebaut und fotografiert von DI Strauß

Im Fokus der Erinnerungskultur: Die erste wissenschaftliche Ausstellung zum größten NS-Zwangsarbeiterlager der Stadt läutet eine neue Ära von kulturwissenschaftlichen Ausstellungen in der Gotischen Halle ein.

Text: Pia Moser

Weite Flächen, eine Wohnsiedlung, ein Kindergarten, ein Jugendzentrum. Fundamentreste von Luftschutzdeckungsgräben, einer Lagerbaracke, eines Bombentrichters. Als vergessen gilt dieser Ort aktuell nicht mehr: Spätestens seit den Planungsarbeiten zum Bau des Murkraftwerks im Jahr 2011 steht fest, dass sich im Bezirk Liebenau eines der archäologisch ergiebigsten und historisch sensibelsten Areale des Grazer Stadtgebietes befindet. Im ­April 1945 diente hier das größte Zwangsarbeiterlager der Stadt als Zwischenstation auf den „Evakuierungsmärschen“ ungarischer Juden vom „Südostwall“ Richtung KZ Mauthausen. Damit wirft die archäologische Bodenfundstätte im Süden von Graz Licht auf eines der dunkelsten Kapitel der Stadthistorie. „Das Lager Liebenau ist ein Produkt der NS-Herrschaft in Graz, das seine Funktionen aus den dahinterstehenden Logiken der NS-Ideologie generierte. Es ist ein Ort verdichteter Geschichte“, sagt Barbara-Stelzl Marx, Leiterin des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung und Initiatorin der ersten wissenschaftlichen Ausstellung zum Lager Liebenau. Im Gedenkjahr gilt die aktuelle Schau als ideale Ergänzung zur Herbstausstellung des GrazMuseums Im Kartenhaus der Republik. Graz 1918–1938: Ab 15. November schließt die Schau in der Gotischen Halle des GrazMuseums unter dem Titel Lager Liebenau. Ein Ort verdichteter Geschichte nahtlos an die Zwischenkriegszeit an, indem sie zentrale Themen der NS-Ideologie beleuchtet. Zugleich ist es für die Gotische Halle des GrazMuseums der Beginn einer neuen Reihe kulturwissenschaftlicher Ausstellungen: Die historischen Räumlichkeiten im Reinerhof – in den vergangenen Jahren nur unregelmäßig mit zeitgenössischer Kunst bespielt – wurden im Zuge der Neuerungen rund um das GrazMuseum wieder mit dem Museum zusammengeführt. Und dienen nun als zusätzlicher Ort für die intensive Vermittlung von Stadtgeschichte.

Todesmarsch ungarischer Juden im April 1945, Hieflau

Verführt und verschleppt

In fünf Themenblöcken findet der historische Hintergrund Eingang in die Architektur der aktuellen Ausstellung. Die Zahl Fünf als Gestaltungsprinzip wurde nicht zufällig gewählt: Sie weist auf den ursprünglichen Namen des Lagers („Lager V“) hin, die römische Zahl spiegelt sich dabei im Buchstaben „V“ wider, der jeweils die fünf Hauptthemen einleitet. Unter dem Schlagwort „Verführt“ beginnt die Auseinandersetzung bei der Grazer Volksgemeinschaft der NS-Zeit – die Sehnsucht nach dem „Anschluss“ war bereits nach Zerfall des k.u.k.-Imperiums groß: „Hitlers Ziel war es, den Menschen von der Wiege bis zur Bahre auf die NS-Ideologie einzuschwören“, erklärt Historikerin Stelzl-Marx. „Der Boden war propagandistisch von Anfang an perfekt aufbereitet. So auch in Graz.“ Gegründet als eines von fünf Grazer Umsiedlerlagern für „Volksdeutsche“ diente die Idee eines völkisch homogenen Staates als Leitmotiv für das auf 5.000 Personen ausgelegte Lager Liebenau. Im Zweiten Weltkrieg bildeten insgesamt acht Millionen von semi- bis unfreiwillig verpflichteten Zwangsarbeitskräften ein wichtiges Rückgrat der Kriegsproduktion. „Liebenau als größtes Zwangs­arbeiterlager in Graz erzählt diese bedrückende Geschichte von Ausbeutung, Unterwerfung, Diskriminierung, Zwang und Leid in all seinen Facetten“, führt Stelzl-Marx durch das zweite Ausstellungskapitel „Verschleppt“, das den Blick auf das Leben im Lager richtet. Vorwiegend waren es junge Männer aus allen Nationen aus dem Einflussgebiet der Deutschen Wehrmacht, die hier untergebracht waren. Aber auch junge Frauen befanden sich unter den Insassen. Der Umgang vonseiten der Lagerleitung war rassisch-ideologisch geprägt. Abhängig von der Hierarchiestufe wurden die Arbeiter besser oder schlechter behandelt: So standen an unterster Stelle sowjetische und polnische Zwangsarbeiter, relativ mehr Freiheiten und bessere Versorgung gab es etwa für Franzosen. Den Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung galt es jedenfalls zu unterbinden, wenngleich dies vor allem im Arbeitsalltag nicht gänzlich möglich war. Im Steyr-Daimler-Puchwerk am gegenüberliegenden Murufer wurden während des Krieges Bestandteile für Geräte und Waffen produziert. Für den täglichen Weg zur Arbeit wurde eigens ein Steg errichtet, der als „Puchsteg“ heute noch besteht.

Barbara Stelzl-Marx und Otto Hochreiter
Foto: Josef Krainer

Vernichtet und verurteilt

In der Ausstellung geben erstmals gezeigte Exponate wie das „Lager-Wörterbuch“ eines sowjetischen Zwangsarbeiters Einblick in das Leben hinter Stacheldraht. Der Themenblock „Vernichtet“ richtet folglich den Blick auf das tiefschwarze Kapitel der Lagergeschichte. Kurz vor Kriegsende wurden vor allem ungarische Juden zum Bau des „Südostwalls“ eingesetzt, der vor der Roten Armee schützen sollte. „Im April 1945 gipfelten die tödlichen Konsequenzen der NS-Politik im Lager Liebenau in der Erschießung ungarischer Juden, die beim Heranrücken der Sowjet­armee in Richtung Mauthausen ‚evakuiert’ wurden“, erklärt die Kuratorin. Die Todesmärsche führten unter anderem durch das Burgenland und die Steiermark, wobei einige Gruppen im Lager Liebenau Rast gemacht haben. Wie viele Menschen hier ermordet wurden, lässt sich heute nicht mit Sicherheit sagen. 1947 wurden 53 Opfer exhumiert, von ihnen waren 34 erschossen worden. Nicht in allen Fällen ist gewiss, dass es ungarische Juden waren. Heute sind nur wenige Zeugnisse der grausamen Endphaseverbrechen erhalten. In der Schau erinnert ein besonderes Exponat an die Opfer der Märsche: der Schuh einer ungarischen Jüdin, vom Enkel eines Schusters auf dem Dachboden aufbewahrt. Ein Symbol für den „Holocaust vor der eigenen Haustür“.

Liebenauer Prozess 1947

Der Nachkriegsjustiz widmet sich das vierte Kapitel der Schau: 1947 wurde ein britisches Militärgericht eingesetzt, das Anklagen gegen vier führende Personen des ehemaligen Lagerpersonals erhob. Der Liebenauer Prozess, der international großes Medienecho nach sich zog, führte zu Todesurteilen für die Lager-Hauptverantwortlichen Nikolaus Pichler und Alois Frühwirth. „Nach 1947 ist im wahrsten Sinne des Wortes Gras über das Areal gewachsen“, führt Stelzl-Marx fort. Das Gebiet wurde nach Kriegsende erst für Flüchtlinge weiterverwendet. Wo sich einst Baracken befanden, entstanden später Wohnhäuser und öffentliche Einrichtungen: „Das Lager Liebenau wurde immer unsichtbarer.“

Wider das Vergessen

Heute wird die Geschichte greifbar, nimmt man nur eine dünne Schicht Gras ab. Bei den Bauarbeiten zum Grazer Jugendzentrum „Grünanger“ wurden Fundstücke aus den 1940er-Jahren entdeckt. Durch die Ausweisung des Lagerareals als Bodenfundstätte findet seit 2017 eine archäologische Begleitung von Grabungen statt, die sowohl ehemalige Lagerstrukturen als auch Kleinfunde oder Graffiti zum Vorschein brachten.

Ausgrabungen
Foto: Barbara Stelzl-Marx

Mit dem Verdrängen und Erinnern befasst sich der letzte Teil der Ausstellung: Das Lager Liebenau wurde in den vergangenen Jahren nicht nur emotional, sondern im Zuge der Bauarbeiten zum Murkraftwerk vor allem auch kontroversiell diskutiert. „Das Thema wurde wissenschaftlich fundiert aufgearbeitet“, sagt Stelzl-Marx dazu. Bereits 2011 entstand im Auftrag der Stadt Graz und der Energie Steiermark eine Publikation zum Lager Liebenau, 2015 folgte eine wissenschaftliche Konferenz des Ludwig Boltzmann ­Instituts für Kriegsfolgenforschung in Kooperation mit der Stadt Graz. „Die Ausstellung soll auch als proaktive Kommunikation dienen, um zu zeigen, wie die Stadt mit diesem sensiblen Thema aus der Vergangenheit umgeht“, sagt Otto Hochreiter, Direktor des GrazMuseums und des Stadtarchivs. Die Schau reiht sich demnach ein in eine lange Tradition der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus: „Wir verstehen uns als historisches Museum, das gesellschaftliches Bewusstsein formt und somit auch im Sinn politischer Bildung ein Ort ständiger tabufreier Erinnerung an ‚helle’ wie ‚dunkle‘ Zeiten sein muss“, so Hochreiter. „Die Erinnerung an den Nationalsozialismus wachzuhalten, heißt auch zu erkennen, wie sehr Faschismen aller Art als Ausdruck von Krisen unserer Gesellschaft und als latent vorhandenes Potenzial eines uns umgebenden Bewusstseinsstands gesehen werden können.“

Plan des Lagers V, Sammlung Karl Kubinzky

Vonseiten der Stadt Graz ist am ehemaligen Areal des Lagers die Errichtung eines Denkmals geplant, darüber hinaus denke man über eine Dauerausstellung nach. Seit einigen Jahren engagiert sich vor Ort insbesondere die zivile „Gedenkinitiative Graz-Liebenau“, rund um den Grazer Arzt Rainer Possert, für das Gedenken an die Opfer. Mit dem Drängen auf Probegrabungen will die Initiative offene Fragen klären und setzt sich vor allem für die Aufrechterhaltung des öffentlichen Diskurses ein. Nachhaltig wirken soll auch eine wissenschaftliche Publikation, die begleitend zur Ausstellung in der Gotischen Halle des Graz­Museums erschienen ist. Diese markiert jedenfalls einen wichtigen Schritt: gegen das Verblassen der Erinnerung.

Lager Liebenau. Ein Ort verdichteter Geschichte. Eine Ausstellung der Stadt Graz und des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegs­folgenforschung

Bis 8. April 2019 in der Gotischen Halle – GrazMuseum, Sackstraße 18, 8010 Graz

www.grazmuseum.at

www.bik.ac.at