Start Featureshome Mobilität der Moderne und der Zauber der Physik

Mobilität der Moderne und der Zauber der Physik

Siegerparade der Österreich-Rundfahrt durch die noch zerbombte Annenstraße mit dem Erstplat-zierten Franz Deutsch (Zweiter von rechts), 1952 Foto: Wolfgang Wehap

Aktuell laufen zwei Ausstellungen im Graz Museum, die die DNA der Stadt mehr als gut beschreiben. „Hätte, hätte, Fahrradkette …“ und „exakt! Anton Paar vermisst die Welt” beschäftigen sich mit dem zielstrebigen Wunsch nach Innovation.

Text: Lydia Bißmann

Zahnpasta, Bier und Profifußball

In der Gotischen Halle wird mit vielen edlen und funkelnden Materialien nachgestellt und erzählt, was das Unternehmen Anton Paar, das heuer sein hundertjähriges Bestehen feiert, eigentlich ausmacht. Aus der Einmann-Schlosserei des Gründers Anton Paar ist inzwischen ein internationaler Messtechnik-Konzern mit 3.800 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern entstanden. Vor nur 19 Jahren waren es noch knapp 500. An neun Standorten auf der ganzen Welt werden Präzisionsgeräte produziert, an 33 werden sie vertrieben. Die kleine, aber sehr intensive Schau meistert ihre Aufgaben perfekt: Besucherinnen und Besucher bekommen mit Videos einen Einblick in die Geschichte und Firmenphilosophie des Unternehmens, das sich schon längst einen Namen durch besonders mitarbeiterfreundliche Angebote wie Sportmöglichkeiten und Kinderbetreuung gemacht hat.

Anton Paar produziert Präzisionsgeräte seit 100 Jahren
Foto: Anton Paar

Was weniger bekannt ist, sind die Bereiche, für die Anton Paar täglich forscht und produziert. Messtechnik klingt kompliziert und komplex – tatsächlich geht es um schlichte Zahlen, die unseren Alltag von früh bis spät begleiten. Sie bestimmen die Beschaffenheit der Zahnpasta, die wir uns täglich auf die Bürste drücken, die Dichte von Duschgel, spielen eine Rolle bei der Bierherstellung, der Beschaffenheit von Sport- und Freizeitkleidung oder in Analysetools für den Profi-Fußball. Die Schau, kuratiert von Bernhard Bachinger und dem Schweizer Gast-Kurator Beat Gugger, ist ein kleiner und feiner Ausflug in ein Physik-Universum zum Anfassen für Erwachsene. Der Kontrast zwischen altem Gemäuer und blitzendem Alu sorgt für Spannung und gibt der sehr intensiven Schau ein schickes, modernes Antlitz. Passend dazu existiert als Online-Begleitung eine eigene Ausstellungs-Website zum Nachlesen und Nachschauen.

Aus dem Ein-Mann-Unternehmen Anton Paar ist ein Weltkonzern geworden
Foto: Sebastian Reiser

Von Drahteseln, Stahlrössern und Fahrradboten

Im Erdgeschoß und im ersten Stock widmet sich dasselbe Kuratoren-Team der Geschichte des Fahrrads in Graz. Auf einem wundervollen alten Puch können sich Besucher auf eine virtuelle Rundfahrt durch die Grazer Altstadt begeben. Daneben gibt es jede Menge Fotos und andere Erinnerungen von Grazerinnen und Grazern zum Thema zu sehen, die durch einen Aufruf im Vorjahr gesammelt wurden. Im ersten Stock erzählen acht völlig unterschiedliche Fahrräder die Biografie ihrer Besitzerinnen und Besitzer und die Rolle, die diese dabei in der Entwicklung und Verbreitung des Rads eingenommen haben. Eine Draisine aus Styropor von Erzherzog Johann oder das Original-Rad von Fahrrad-Visionär und Vizebürgermeister Erich Edegger finden sich darunter genauso wie das Rad einer Fabrikarbeiterin aus Gries, ein klappbares Fahrrad aus der Waffenfabrik Steyr aus dem Jahr 1916 oder der Flitzer eines Fahrradboten, wie wir ihn aus dem Alltag kennen.

Aktionismus auf zwei Rädern gibt es immer noch
Foto: Edie Haberl

Mit Statistiken, Karten von Fahrradwegen, Info und Bildern von Radrennen und den Sternstunden der Radvereine, aus denen schließlich die Fußballvereine entstanden, historischen, aber auch aktuellen Protestbewegungen rund um das umweltfreundliche Fortbewegungsmittel beschäftigt sich ein weiterer Raum. Im dritten Ausstellungsraum widmet man sich den führenden Fahrradherstellern im Grazer Raum wie etwa „Puch“ und „Junior“, die sehr viel zum Fahrradboom in der Stadt beigetragen haben. Auch diese Schau besticht durch enorme Liebe zum Detail, gelungenes Storytelling und einen modernen musealen Zugang. Diagramme werden mit einzeln in die Wand geschlagenen Nägeln und Drahtschnüren dargestellt, Straßenbeläge unter den historischen Fahrrädern sind exakt auf die Untergründe jener Tage abgestimmt. Ein „explodiertes“ Puch-Mistral wurde in alle Einzelteile zerlegt und so gehängt, dass sich die Teile aus einer gewissen Perspektive wieder zu einem ganzen Rad zusammenfügen. Man kann schnell durch die Räume flitzen und sich an den historischen Rädern und wunderschönen Werbe-Plakaten erfreuen – man kann aber auch sehr, sehr viel Zeit hier verbringen und erkunden, wie das Fahrrad Damenmode, Straßenzüge und Stadtplanung oder Freizeitgestaltung in über 100 Jahren veränderte und sich dabei eigentlich seit 1900 selbst gar nicht viel verändert hat. Hätte, hätte, Fahrradkette … ist ein Pflichtprogramm für alle Fahrradfans – für jene, die es werden wollen, gibt es keinen besseren Ort.  

Plexiglas und Anschauliches zum Anfassen in der Gotischen Halle
Foto: Sebastian Reiser

Hätte, hätte Fahrradkette … Radeln durch Graz und Zeit
bis 31.7.22, Erdgeschoß und erster Stock

exakt! Anton Paar vermisst die Welt
Gotische Halle, bis 3.7.22, Eintritt frei

Graz Museum
Sackstraße 18, 8010 Graz
Mo–So: 10–18 Uhr
Tel. 0316 872-7600

grazmuseum.at