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Nicht verboten heißt erlaubt

Die legendäre „Puschkinskaja“ – Zentrum Nonkonformistischer Kunst, nicht nur in Russland

Zwei weltweit akut gewordene Phänomene verknüpfen sich in diesem Projekt der Steirischen Kulturinitiative: die Auflösung des Sozialistischen Realismus in der Kunst nach dem Ende der Sowjetunion und die hartnäckige Corona-Pandemie, die viele Pläne schnell in ganz andere Richtungen drängte.

Nonkonformistische Kunst? – Na klar, was sonst: Kunst muss wirklich nicht mehr das Abbild des Wahren, Guten und Schönen sein. Sogar in Österreich hat sich das in den 1950er und 1960er Jahren durchgesprochen, wenn auch noch langsamer durchgesetzt. Und es verdünnt sich mit dem  Roll-back wieder. In St. Petersburg steht ein robustes Haus in zweiter Linie, also durch einen Hausdurchgang zu erreichen: darin ist seit 1989 eigenständig und unabhängig das Museum Nonkonformistische Kunst etabliert, auf vielen Stockwerken sind auch Ateliers, kleinere Galerieräume und sogenannte Residencies in Betrieb. Diese hat Anastasja Patsey entwickelt und weltweit belebt – auch mit sozialer Funktion. Die seit 2015 tätige Direktorin des Komplexes war schon kuratorisch im Haus tätig und brachte Erfahrungen aus dem Osten, aber auch aus dem Norden Deutschlands mit. Sie puschte damit neue Ideen und Notwendigkeiten in den Kunstorganismus. Zwar von der Entwicklung und wohl auch von den Auswirkungen her ganz anders gestaltet, lenken solche Erscheinungen den Blick auf Österreich wie auch auf die Steiermark. Hier natürlich nicht gerne bemerkt.

Round Table im Grazer Volkshaus

Als Stichwörter genügen die Gründungsphase des Forum Stadtpark in den späten 1950er Jahren bis hin zur obskuren Aktion Rettet den steirischen herbst in der Mitte der 1970er Jahre. Die für dieses Projekt von der Steirischen Kulturinitiative angeregte Spiegelung in die steirische bzw. österreichische Kunstszene, Kulturpolitik und ihre Genesis drängte sich auf. Die Neue Galerie des UMJ dokumentiert das seit längerem in einer vor Artefakten strotzenden Ausstellung. Das gilt auch für die dort sichtbare „Entdeckung“ früherer steirischer Frauenkunst. Für den Round Table im kongenialen Rahmen des Volkshauses Graz am vergangenen Dienstag gab es also genug Gesprächsstoff und nicht nur Erinnerungsaustausch. „Nicht verboten heißt erlaubt: nonkonformistische Kunst zwischen Leningrad und St. Petersburg“, hieß der Vortrag von Anastasja Patsey. Die Kunsthistorikerin und Kuratorin arbeitet auch international. Seit 2012 ist sie Mitglied des kuratorischen Teams und Vorstandsmitglied im Kunsthaus Puschkinskaya-10 – Russlands ältester selbstorganisierter und unabhängiger Kultureinrichtung. Zu ihren Forschungsinteressen gehören, neben nonkonformistischer Kunst, künstlerische Selbstorganisation, Kunstresidenzen, kulturelle Mobilität und Nomadismus.

Anastasja Patsey

Erweitert wurde dieser hierzulande nicht gewohnte Blick von Simon Mraz mit seinem Vortrag „Russlands gegenwärtige Kunstszene im Spannungsfeld von staatlicher Vereinnahmung und neuem Selbstbewusstsein“. Mraz begann am Wiener Dorotheum und wurde Leiter des Kulturforum Moskau (2009–2020). Mit Beginn 2021 „erfindet“ und managet er kulturelle Sonderprojekte des österreichischen Außenministeriums und ist Koordinator der Kulturarbeit der österreichisch-russischen Plattform Sotschi-Dialog. Er arbeitet derzeit an einer Publikation über die freie russische Kunstszene der letzten 20 Jahre (Reaktion Verlag, London, geplante Erscheinung Frühjahr 2021).
Ekaterina Degot wurde in Moskau geboren, ist zunächst Kunsthistorikerin, Forscherin und Kuratorin. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt auf ästhetischen und gesellschaftspolitischen Fragen in Russland und Osteuropa vom 19. Jahrhundert bis zur postsowjetischen Ära. 2018 wurde sie zur Intendantin und Chefkuratorin des steirischen herbst bestellt. Am Round Table lieferte sie kritische Beiträge rund um ihr Thema „Nonkonformistische Kunst – heute?“

Ekaterina Degot: Intendantin und Chefkuratorin des steirischen herbst
Foto: Johanna Lamprecht

double feature an Stirnwänden

„International Belka! Erfahrungen als Künstler in Moskau, St. Petersburg und Nischni Nowgorod“ berichtete Bernhard Wolf. Er lebt als freischaffender bildender Künstler in Graz. 1992–1998 führte ihn sein Studium an die Freie Akademie Moskau zu Aleksandr Petlura. Damals hatte er mehrfachen Austausch mit der St. Petersburger Kunstszene und Ausstellungen im freien Kunstzentrum „Pushkinskaja 10“. Zusätzlich war er für Lectures und Lehrtätigkeit u.a. in Suzhou/China, London, Moskau und Kiew. Seinen Schwerpunkt hat Wolf auf visuelle Kommunikation und Kunst im öffentlichen Raum gelegt. Im Rahmen dieses Programmschwerpunkts der Steirischen Kulturinitiative hat Bernhard Wolf das auch längerfristig erfahrbar gemacht: am Lazarettgürtel und in der Kärntnerstraße 25 wurden zwei großflächige Hauswände markant bemalt. Präsentiert wurden diese beiden Arbeiten in Sichtweite auf der Terrasse von Jugend am Werk im Gürtelturm.

Bernhard Wolf gestaltet für das Projekt Nonkonformistische Kunst die Stirnwände zweier markan-ter Häuser in Graz Foto: wilfriedmoertl.com


Der Moderator dieses Gesprächs Herwig Höller kommt aus Rottenmann, ist Journalist, Kunstkritiker und Kulturwissenschafter. Seine Diplomarbeit lautet Die Moskauer Neunziger: Facetten aus Kultur, Kunst, Politik und Wissenschaft (2001), bewegt sich also auch um die Gründungsphase der Pushkinskaja. Seit 2001 ist Höller Lehrbeauftragter am Institut für Slawistik der Universität Graz, dazu kommt ein privates Forschungsprojekt zur Kulturpolitik des KGB in der zweiten Hälfte der 1970er. Außerdem publiziert er für die Kunstzeitschrift „springerin“ (Wien), „Camera Austria“ (Graz) und colta.ru (Moskau) sowie im „Standard“ (Wien) mit Schwerpunkt bildende Kunst und Kulturpolitik im postsowjetischen Raum. Seit 2014 ist er auch Korrespondent der Austria Presse Agentur.   

es warat wegen morgen

Für eine Protest-Performance und theatrale Protestkundgebungen wurden Menschen verschiedener Generationen (ab 14 Jahren) in den Bezirken Deutschlandsberg, Voitsberg und Weiz gesucht, um an einer Theaterproduktion darüber mitzuwirken. Stattfinden wird das von der Steirischen Kulturinitiative koproduzierte Projekt im Rahmen des steirischen herbst ’21. Felix Hafner, der fast schon arrivierte Regisseur, will mit seiner Frauschaft (Bühne, Dramaturgie und Produktionsleitung) bei den Akteuren herausfinden: Was beschäftigt euch? Wofür würdet ihr auf die Straße gehen? Was wollt ihr verändern? Wie kann Protest in Deutschlandsberg, Maria Lankowitz und Weiz aussehen? Was braucht es überhaupt für einen erfolgreichen Protest? An diesen Fragen wird derzeit in viertägigen Workshops in den jeweiligen Orten mit einer je eigenen Gruppe geforscht, gebastelt und gearbeitet, im September wird daran gefeilt und die Protest-Performance hörbar gemacht werden. Dabei geht es um die Interessen, Anliegen und Zukunftsvisionen der Gastschauspieler und des Publikums.         

Felix Hafner
Foto: Manuel Megersa

es warat wegen morgen

10.–13.8., 6.–12.9.2021, Deutschlandsberg
21.–24.8., 14.–19.9. 2021, Weiz
27.–30.8., 21.–26.9.2021, Maria Lankowitz

Eine Koproduktion im Rahmen des steirischen herbst ’21

Scheibtruchnan

Evamaria Schaller lebt in Köln, stammt jedoch aus der Steiermark und war gerade in Bulgarien künstlerischer Gast. Die Video- und Performancekünstlerin setzt beide Medien auch installativ ein und wird ein Genre-Grenzen überschreitendes „nonkonformistisches“ Konzept umsetzen – wenn möglich in einer Performance im öffentlichen Raum. In ihrem Projekt Scheibtruchnan werden zehn grüne Schubkarren durch im klassischen schwarzen Anzug mit Krawatte und Lackschuhen gekleidete Performer von einem zum nächsten öffentlichen Platz in Graz geschoben, geradelt, mit oder ohne Last. Menschen werden transportiert, aufgestapelt, skulptural inszeniert, in Linien aufgereiht. Es ist ein langsames Vorwärtskommen, eine Störung des öffentlichen Lebens, ein Gemeinschaftsprojekt mit Passanten und doch eine klare Abgrenzung. Eine „Scheibtruhenburg“ als letzte Bastion und Markierung im öffentlichen Raum. Eine mobile Stadt-Störung, an der die Passanten teilnehmen können.     

Dienstag, 12. Oktober, Graz, Stadtgebiet