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Zeitgenössische Kunst trifft auf Ausnahmezustand

Mit Paranoia TV greift der steirische herbst 2020 die von Angst und Unsicherheit geschwängerte Atmosphäre der heutigen Zeit auf.

Text: Stefan Zavernik

Statt im Lockdown darüber nachzudenken, ob man in diesem Jahr überhaupt ein Festival auf die Beine stellen wird können, wurde umgehend eine ­virusresistente Ausgabe erarbeitet. Entstanden ist dabei keine abgespeckte Notversion, sondern ein komplett neues Programm und darüber hinaus wohl auch eine experimentelle Neuinterpretation des Festivals, was seine Erscheinungsform betrifft. Der steirische herbst wird zum Medienkonzern. Selbst im Falle eines zweiten Lockdowns wäre man so in der Lage gewesen, das Festival ­durchzuführen. Wie das möglich wurde? „Wir haben die Künstlerinnen und Künstler darum gebeten, Arbeiten zu entwickeln, die sowohl in einer Zeit des Lockdowns als auch in einer wie auch immer gearteten ‚Normalität‘ als auch irgendwo dazwischen funktionieren können, nicht abgesagt oder verschoben werden müssen, egal wie sich das Infektionsgeschehen entwickelt“, erklärt Henriette Gallus, stellvertretende Intendantin des Festivals. Nun, da sich das Virus aktuell scheinbar unter Kontrolle befindet und Kulturveranstaltungen wieder möglich sind, wird der steirische herbst auch im analogen Raum stattfinden. Mit Festivalzentrum, offiziellem Eröffnungsakt, Performances, Interventionen und vielem anderen, das einen steirischen herbst zum lebendigen Kunsthappening werden lässt. Nur eines wird es nicht geben, die große offizielle herbst-Ausstellung.

Kunst findet die Menschen

Anstelle einer großen herbst-Ausstellung durchdringen das Festival unzählige Installationen und Interventio­nen. Letzteren kommt eine ganz besondere Bedeutung im Gesamtkunstwerk der diesjährigen Ausgabe bei. Denn das Festival wird in diesem Jahr so aktiv sein Publikum suchen wie nie zuvor. „Viele Künstlerinnen und Künstler realisieren in diesem Jahr Interventionen, die an solchen Orten stattfinden, die als „systemrelevant“ gelten, sodass die Kunst den Weg zu den Menschen findet, ohne dass der Mensch den Weg zur Kunst suchen muss. Es gibt künstlerische Arbeiten in Supermärkten, in Krankenhäusern, per Essen-Lieferservice oder in Taxis“, so Henriette Gallus. Was hier konkret zu erwarten ist? In der Spar-Filiale im Kastner & ­Öhler etwa werden Besucher im Rahmen von A Convention of Tiny Movements in ein Schreckensszenario der nicht allzu fernen Zukunft versetzt und erleben während ihres Einkaufs Alltagsgegenstände, die als Überwachungsgeräte fungieren. Am Grazer Burgring konfrontiert die Installation Dictionary of Imaginary Places auch ahnungslose Spaziergänger mit quietschstimmigen Laternen, die im Dialog die Namen geheimnisvoller Städte und Länder aus der Welt der Literatur rezitieren. Die Kunst wird während des Festivals in der Stadt allgegenwärtig sein.

In der Herrengasse wird das Festivalzentrum eingerichtet

Paranoia-TV-Zentrale 

Ein Festival als Medienkonzern? Wie kann so etwas aussehen? Eine erste Antwort liefert der Ausblick auf die traditionelle Eröffnungsrede des Festivals. Diese wird in diesem Jahr nicht nur live vor Ort vor dem Orpheum zu erleben sein, sondern auch über 99 Bildschirme in der Grazer Innenstadt flimmern. Neben analogen Programmpunkten wird das Festival über eine App und seine Website Serien und Filme ausstrahlen. Das Festivalzentrum befindet sich heuer in der Grazer Herrengasse und fungiert als „Paranoia-TV-Zentrale“. Dort erhalten Besucher im Erdgeschoß Informationen zu den verschiedenen Programmen von Paranoia TV und der neuen Paranoia-TV-App, es können Tickets zu ausgewählten Veranstaltungen oder Paranoia-TV-Merchandise erworben werden. Im Untergeschoß der Zentrale befindet sich ein Raum, in dem Besucher das Filmprogramm und die TV-Serien von Paranoia TV in einem Loop ansehen können. Das erste Obergeschoß bietet Platz für ein Café sowie einen Bereich für Künstlergespräche und die Möglichkeit, Online-Events nach Anmeldung vor Ort zu verfolgen. Eine Installation des Moskauer Künstlers Igor Samolet lädt dazu ein, zu mäandern und Energie zu tanken. Auch für Mobiltelefone, die von Paranoia TV sicher stark beansprucht werden, werden Ladestationen bereitstehen.

Ein herbst voller Kollaborationen Ganz auf Ausstellungen braucht das Publikum allerdings auch in diesem Jahr nicht zu verzichten, dafür sorgen Partnerinstitutionen im Zuge des Rahmenprogramms des Festivals. Darunter das Kunsthaus Graz, das Künstlerhaus, die QL-Galerie, das Forum Stadtpark und viele andere. Mit Out of Joint erhält der steirische herbst heuer ein eigenes Literaturfestival, das gemeinsam mit dem Literaturhaus Graz auf die Beine gestellt wird. Auch das musikprotokoll wird es in diesem Jahr wieder geben, dieses Mal mit einer großen Opernproduktion der Kunstuniversität Graz. Das zweite Jahr infolge beheimatet der steirische herbst auch die Murauer Initiative STUBENrein als Festival im Festival. Den kompletten Festivalkalender mit allen Programmpunkten finden Sie auf der folgenden Doppelseite.