Konstruktion und Dekonstruktion von Europa im Graz Museum: Die Ausstellung „Die letzten Europäer. Jüdische Perspektiven auf die Krisen einer Idee“ in der Gotischen Halle im Graz Museum widmet sich der Idee eines friedlichen Zusammenlebens in Europa samt ihren Bedrohungen.
Die Schau, die vor fünf Jahren vom Jüdischen Museum Hohenems und dem Jüdischen Museum München konzipiert wurde, will in erster Linie zum Diskurs anregen und lieber Fragen aufwerfen als beantworten. Sie erzählt von jüdischen Männern und Frauen, die ihr Leben in Theorie und Praxis dem Projekt Europa widmeten – und auch davon, wie mit diesem Erbe aktuell umgegangen wird. Ein riesiges Plakat vor dem Eingang der Schau, auf dem 125.300.000 europäische Opfer des 20. Jahrhunderts nach Krise und Gebiet aufgelistet sind, soll daran erinnern, worum es bei der Vision Europa eigentlich geht: um die Vermeidung von Vernichtung und Gewalt. Das Graz Museum greift mit dieser Ausstellung sein Jahresthema „Stadt und Demokratie“ auf und wagt zugleich einen Blick über die regionalen Grenzen hinaus – hin zu einer europäischen Debatte über Zusammenleben, Verantwortung und Erinnerungskultur.
Jüdische Impulse für Europa
Man begegnet hier etwa Paul Julius Reuter, dem Begründer des internationalen Nachrichtendienstes Reuters, der ungarischen Frauenrechtlerin Rózsika Schwimmer, dem Begründer des Rechtsbegriffs „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, Hersch Lauterpacht, oder dem Erfinder der übernationalen Sprache Esperanto, Ludwig Zamenhof. 16 Schautafeln, die wichtigen europäischen Kernthemen gewidmet sind, beschreiben das Leben und Wirken dieser Persönlichkeiten. Da die Idee eines friedlichen, konsensorientierten Europas über alle nationalen Grenzen hinweg jedoch keineswegs in Stein gemeißelt ist, sind den Tafeln jeweils zwei antagonistische Bilder beigefügt. Sie illustrieren sowohl die Umsetzung von freiem Grenzverkehr, das Bemühen um Gleichberechtigung der Klassen und Geschlechter sowie die Aufarbeitung des Horrors der Kriege und des Holocausts als auch die Bedrohungen dieser Ideen.
Antagonistische Bilder
Der Brieftaube von Reuter ist etwa ein zynisch verwendeter Faschingsscherz in Form eines Bordellgutscheins gegenübergestellt, den angeblich Asylwerbende vom Staat bekommen, um sich nicht an einheimischen Frauen vergreifen zu müssen. Dieses Bild steht für Fake News, die unkontrollierte Verbreitung von Unwahrheiten im Netz und die immer schwieriger werdende Situation für Qualitätsjournalismus. Ein Plakat der ungarischen Frauenbewegung wird einem Propagandaplakat der Orbán-Regierung gegenübergestellt, die 100 Jahre später mit mehr Kindern eine drohende „Überfremdung“ Ungarns bekämpfen will. Den Tafeln sind Videointerviews mit Intellektuellen wie Daniel Cohn-Bendit, Doron Rabinovici oder Cilly Kugelmann beigefügt, die die Themen zusätzlich in der Gegenwart verankern und aktuelle Krisen, Kriege und Debatten einbeziehen. Zum Schluss dürfen die Besucherinnen und Besucher auf einer Welt- und einer Europakarte selbst Hand anlegen und mit einem Stift festhalten, wie und wo sie ganz persönlich Europa sehen wollen. Alle Texte sind – neben etwas ausführlicheren Biografien der Personen – auch in der gleichnamigen Publikation Die letzten Europäer. Jüdische Perspektiven auf die Krisen einer Idee zu finden (Europäische Verlagsanstalt 2022).
Die letzten Europäer. Jüdische Perspektiven auf die Krisen einer Idee
Bis 11.1.2026, täglich 10–18 Uhr
Graz Museum
Gotische Halle, Sackstraße 18, 8010 Graz
Infos zu Veranstaltungen und Führungen: www.grazmuseum.at