Ins Ungewisse – Demokratie in Graz 1945–1965: Im Interview berichten die Direktorin des Graz Museums Sibylle Dienesch und die beiden Kurator*innen Annette Rainer und Bernhard Bachinger über die Gestaltung und Konzeption der Ausstellung über 20 Jahre Nachkriegszeit in Graz.
Interview: Lydia Bißmann
Wie wird das Gefühl der Unsicherheit und das titelgebende Ungewisse in der Ausstellung behandelt?
Annette Rainer: Wenn man sich die Geschichte anschaut, haben die Menschen seit 1934 in diktatorischen Systemen gelebt. Die Nachkriegszeit bedeutete für viele, erst lernen zu müssen, was es heißt, in einer Demokratie zu leben. Vieles war in dieser Zeit unsicher, vieles unklar – dieses Ungewisse wollten wir spürbar machen. Deshalb war es uns wichtig, die Alltagsgeschichte zu erzählen – wie haben die Menschen zusammengelebt?
Sibylle Dienesch: Unser Jahresthema für 2025/26 ist Stadt und Demokratie und deswegen zieht sich dieses Demokratiethema wie ein dünner roter Faden auch durch diese Ausstellung. Von den ersten Wahlen bis zu den ersten Möglichkeiten, sich als Bürger in einem Beteiligungsverfahren demokratisch zu äußern. Die Demokratie als Lebensform ist ja nicht immer so sichtbar – sie ergibt sich aus den Zwischenräumen des gesellschaftlichen Handelns.
Annette Rainer: Gerade im Alltag und besonders im Bildungssystem zeigte sich, dass vieles, was die Demokratisierung betrifft, nicht sofort funktionierte. Es gab auch einen großen Lehrermangel, und Lehrerinnen und Lehrer, die in der Phase der Entnazifizierung entlassen worden waren, mussten wieder eingestellt werden. Erst mit der Schulreform 1962 wurden klare Richtlinien geschaffen, da wurde auch die Schulpflicht auf neun Jahre verlängert. Das waren alles Prozesse, es wurde nicht von heute auf morgen demokratisch gelebt.

Foto: Sebastian Reiser
Warum wurde genau das Jahr 1965 als Endpunkt für die Schau ausgesucht?
Bernhard Bachinger: 1955 endete zwar die Besatzungszeit, aber damit war die Nachkriegszeit ja keineswegs abgeschlossen. Die Neuordnung der Gesellschaft, die Etablierung eines neuen Selbstverständnisses, das sich in Graz, aber auch in ganz Österreich herausgebildet hat, kann man in diesen zwei Jahrzehnten ganz gut sehen. 1965 wird etwa der „Tag der Fahne“ zum „Nationalfeiertag“ und man könnte sagen, dass damit die Diskussion über die österreichische Identität abgeschlossen ist. In der historischen Meistererzählung galt Graz als Stadt im Südosten knapp vor dem Eisernen Vorhang als ein wenig verstaubt, konservativ und rückwärtsgewandt. Erst Ende der 1950er Jahre, etwa mit der Gründung des Forum Stadtpark, gibt es einen Aufbruch. Wir wollten uns genauer anschauen, was vorher passiert ist, was schon angelegt war für diese Entwicklung.
Welche demokratischen Meilensteine dieser Zeit in Graz werden in der Ausstellung gezeigt?
Bernhard Bachinger: Wenn man das Pferd von hinten aufzäumen will, war ein ganz wichtiger Punkt die Erneuerung des Grazer Stadtstatuts von 1967, das schon lange vorher vorbereitet wurde. Damals gab es, wie schon erwähnt, Bürgerbefragungen und Initiativen, was Graz dann auch den Nimbus der Bürgerinitiativenhauptstadt von Österreich einbringt. Ebenso bedeutend war die Errichtung des Hackher-Löwe-Denkmals, das 1963 beschlossen und 1965 als Symbol für ein neues Selbstverständnis umgesetzt wurde. Und schließlich die Abstimmung über die Rathausfassade 1966 – ein frühes Beispiel dafür, wie Bürgerinnen und Bürger direkt in Entscheidungen einbezogen wurden.

Foto: Sebastian Reiser
Die Ausstellung wirkt auf mehreren Ebenen. Wie wurden Objekte und Struktur gewählt?
Sibylle Dienesch: Jeder Bereich ist mehrschichtig angelegt: Es gibt Leitfragen, Kunstwerke und Audio-Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, in die man sich vertiefen kann. So entstehen verschiedene Erzählebenen, die sich ergänzen. In der Ausstellung hängen große Reproduktionen von ikonischen Fotos, die einen internationalen Kontext herstellen und den Zeitgeist dieser Jahre widerspiegeln sollen.
Bernhard Bachinger: Wir haben insgesamt elf Lebensbereiche identifiziert, auf die wir uns anhand von Säulendisplays beziehen. Die Lebensbereiche behandeln wir mit einfach formulierten Fragen wie „Wie leben wir zusammen?“, „Wie wohnen wir?“ oder „Wie organisieren wir uns?“. Die Metapher der Säule verweist auf demokratische Gebäude wie Parlament oder Rathaus. Wir haben auf unterschiedliche Quellen gesetzt: Interviews aus der Oral-History-Archiv der Uni Graz, Tagebücher, Autobiografien. Generell wollten wir die Menschen selbst auch zu Wort kommen lassen.
Annette Rainer: Uns war es wichtig, persönliche Erinnerung und historische Fakten nebeneinanderzustellen. Erst dieses Nebeneinander macht deutlich, wie unterschiedlich Erinnerung funktioniert.
Sibylle Dienesch: Entscheidend war auch die Zusammenarbeit mit Angehörigen. Die Tochter eines Künstlers ist etwa aktiv auf uns zugekommen und hat Material beigesteuert. Das war sehr schön, manchmal kann man gar nicht so punktgenau nach Objekten suchen. Solche persönlichen Beiträge bereichern die Ausstellung enorm. Es ist ja ein Teil unserer Strategie, mit den Menschen in der Stadt zusammenzuarbeiten. Dieser Samen, den wir schon bei den vorigen Ausstellungen wie Protest! oder Habitat Graz gesät haben, geht mehr und mehr auf.
Die drei Ausstellungsräume sind voll mit bildender Kunst – wie hat sich diese nach 1945 verändert?
Annette Rainer: Wir haben Kunst bewusst als eigene Ebene aufgenommen, aber immer auch in Beziehung zum Alltag gesetzt. Während in der NS-Zeit nur ein enges Spektrum zugelassen war und viele auch als Propagandakünstler und -künstlerinnen gearbeitet hatten, brach mit Kriegsende eine neue Phase an: Einerseits versuchte man, an die klassische Moderne anzuschließen, andererseits formierte sich eine junge Avantgarde, die sich von den alten Institutionen absetzte – in Graz etwa mit der „Jungen Gruppe“ und später dem Forum Stadtpark. Zugleich blieben viele ehemalige NS-Künstler etabliert, während Rückkehrer wie Axl Leskoschek, der Kommunist war, es sehr schwer hatten, wieder Fuß zu fassen. Man sieht also, dass Brüche und Kontinuitäten nebeneinanderstanden – Kunst war aber in jedem Fall entscheidend für die Identitätsbildung in der Nachkriegszeit.

Foto: Sebastian Reiser
Es gibt aber noch andere Arten, die Geschichte der Nachkriegszeit in der Ausstellung zu vermitteln …
Annette Rainer: Ein Wohnzimmer im Stil der 1960er ist ein Ort, der sofort Erinnerungen auslöst – viele Besucherinnen und Besucher sagen dann: „So ein Musikmöbel hatte meine Oma auch!“ Damit entsteht ein sehr niederschwelliger Einstieg, der die persönliche Erinnerung anregt. Die Gegenwartskünstlerin Isolde Tomann hat für uns eine eigene Duftebene kreiert, die ganz stark mit dieser Zeit verbunden ist: Hausbrand, Coca-Cola, Popcorn oder kalte Dauerwelle. Für uns war es wichtig, etwas Sinnliches in die Ausstellung zu bringen – durch Gerüche können Erinnerungen ganz schnell wieder hervorgerufen werden.
Was wünschen Sie sich, dass die Besucherinnen und Besucher – ob jung oder alt – nach dem Rundgang mit nach Hause nehmen?
Bernhard Bachinger: Ich wünsche mir, dass die Besucherinnen und Besucher Freude am Entdecken haben, dass sie ihre eigenen Erinnerungen wiederfinden und vielleicht auch Tagebücher oder Fotos neu wertschätzen. Wichtig ist auch, zu verstehen, mit welchen Problemen die Menschen damals konfrontiert waren und wie sie Lösungen gefunden haben. Vieles davon prägt unser Leben bis heute.
Annette Rainer: Ich wünsche mir, dass alle mitnehmen, dass Demokratie etwas ist, das man erkämpfen und ständig weiterentwickeln muss.
Sibylle Dienesch: Wir wollen Mut machen, die Zukunft aktiv mitzugestalten.
Ins Ungewisse. Graz 1945–1965
bis 26.8.2026, täglich 10–18 Uhr
Graz Museum, Sackstraße 18, 8010 Graz
Infos zu Veranstaltungen und Führungen: www.grazmuseum.at