Intendantin Ekaterina Degot über die Aufgabe des Festivals steirischer herbst, Solidarität und Kunst als kritisches Gegengift.
Interview: Stefan Zavernik
Sie führen das Festival seit 2018, in Zeiten von Krieg, Krise und Globalisierung. Was ist der gesellschaftliche Auftrag des Festivals in dieser „ruhigen Mitte Europas“, wie Sie selbst die Lage einmal bezeichnet haben? Warum braucht es ein Festival wie dieses?
Ich sehe die Rolle des steirischen herbst gerade jetzt darin, daran zu erinnern, dass wir uns in einer Zeit von Krieg, Krise und Globalisierung befinden – denn die Menschen neigen dazu, dies zu vergessen oder vergessen zu wollen. In der Steiermark wie auch anderswo, sowohl rechts als auch links, möchten sich viele in ihren eigenen, behaglichen Kokon zurückziehen, um sich von der Welt zu isolieren. Der steirische herbst wurde vor fast 60 Jahren ins Leben gerufen, um eine Lücke zu füllen – die Lücke des kritischen Denkens, des künstlerischen Experiments, der Offenheit und des internationalen Geistes. Diese Aufgabe sehe ich wichtiger als je zuvor.
Sie betonen „radikale Solidarität“ mit lokalen Partnerinnen und Partnern (z. B. Megaphon, Antidiskriminierungsstelle) und programmatische Interventionen im öffentlichen Raum – was bedeutet das für Ihre kuratorische Strategie und die gesellschaftliche Rolle des Festival?
Die Solidarität, die ich meine, ist vor allem im Spiegel der drastischen Kürzungen in diesem Bereich zu sehen. Die Kürzungen dort entspringen demselben Geist, den auch Kulturinstitutionen und die freie Szene zu spüren bekommen. Es ist ein Kleingeist ohne Zukunftsperspektive, dem wir uns alle gemeinsam entgegenstellen müssen. Das betrifft auch öffentliche Orte, denn Graz ist, wie viele Städte und Orte in Österreich, eine typische mitteleuropäische Stadt mit mittelalterlichem Kern, in der der öffentliche Raum vor allem auf ehemaligen Marktplätzen zu finden ist. Diese Orte sind das eigentliche, lebendige Herz der Stadt – doch politische Strukturen und Themen scheinen dort ausgelöscht zu sein. Wir wollen sie wieder zum Leben erwecken, dem öffentlichen Raum durch Kunst einen öffentlichen Charakter zurückgeben.

Foto: Dajana Lothert
NEVER AGAIN PEACE: Das Motto der diesjährigen Ausgabe zitiert Ernst Tollers satirische Theatergroteske aus den 1930er Jahren. Warum haben Sie sich für diesen Titel entschieden? Welches Konzept steckt hinter der diesjährigen Ausgabe?
Tollers Theaterstück Nie wieder Friede ist eine satirische Groteske, die den aufkeimenden Faschismus der 30er Jahre treffend beschreibt, die aber leider auch die heutige Situation widerspiegelt. Er kehrte den pazifistischen Slogan der Zwischenkriegszeit „Nie wieder Krieg“ ins Gegenteil. Diese Umkehrung ist für die diesjährige Festivalausgabe programmatisch: Sie reflektiert, wie der Satz „Nie wieder“ heute zunehmend hohl klingt, angesichts von Kriegen, Nationalismus und dem Zerfall internationaler Institutionen. Wir wollen historische Parallelen – von der Zwischenkriegszeit und heute – aufzeigen und fragen, wie schnell sich Begriffe und Ideale ins Gegenteil verkehren können beziehungsweise leere Worthülsen werden.
Der sogenannte BAU nutzt im Rahmen des Festivals die Leerstände der ehemaligen Destillerie Bauer in Graz-Gries – was bedeutet es für das Festival, mit Leerständen wie diesem zu arbeiten?
Die Destillerie Bauer nutzen zu können, war für das Festival ein außergewöhnlicher Glücksfall – große Gebäude mit einem so originellen räumlichen Charakter sind selten. Wir freuen uns außerdem, unsere dichte, spannende und mutige Ausstellung in einen Stadtteil zu bringen, den viele vielleicht in puncto Kulturprogramm noch nicht so am Radar haben. Und wir hoffen auch, dass viele lokale Bewohnerinnen und Bewohner in die Ausstellung kommen.

Foto: Thomas Zamalo
Welche konzeptuelle Idee trägt die Hauptausstellung im BAU?
Der Name BAU spielt bewusst mit Mehrdeutigkeiten: von Tierbehausung über Baustelle bis hin zu Gefängnis. Diese Bedeutungsvielfalt wird durch die vielen neuen Auftragsarbeiten offengelegt. Das Gebäude selbst, mit seinen unterschiedlichen Architekturstilen, verwinkelten Strukturen und teils dystopischer Abgelebtheit, soll das Publikum in einen traumartigen Zustand versetzen. Wir sehen es mal als Fluchtschiff von Antifaschistinnen und Antifaschisten, mal als Alpenfestung der Rechten oder als Hotel, in dem Menschen auf ihre ungewisse Weiterreise warten. Also auch ein Bau voller Widersprüche, die aber mit sich selbst kommunizieren.
Was kann das Publikum von der Performance in der Helmut List Halle erwarten, mit der das Festival eröffnet wird?
Die Neuinterpretation des Ballets, die Manuel Pelmuș und Frédéric Gies für uns konzipieren, wird nicht weniger bahnbrechend als die Uraufführung von 1932, wenn auch mit wesentlich mehr queeren Aspekten. Ich denke, es wird eine intensive Performance. Ivo Dimchev, der danach folgt, kann man getrost als verrückt – im besten Sinn – bezeichnen. Seine Performance Hot Sotz wird die Grenzen dessen, was gesellschaftlich „akzeptabel“ ist, zumindest testen. Er macht auch die anschließende Party in der Helmut List Halle, zu der ich an dieser Stelle jede und jeden herzlich einlade.
Sie kombinieren Ausstellung, Performance und Diskurs. Welche Rolle spielen die Artist Talks dabei, künstlerische Projekte erlebbar und reflektierbar zu machen?
Die Artist Talks geben dem Publikum die Möglichkeit, die Künstlerinnen und Künstler persönlich zu erleben, ihre Ideen und Arbeitsweisen kennenzulernen. Heuer legen wir aber auch besonderes Augenmerk auf die persönlichen Geschichten der Künstlerinnen und Künstler, denn alle haben Erfahrungen mit Krieg, Vertreibung oder Flucht machen müssen. Ich denke, das hilft, die Arbeiten besser zu verstehen und im Kontext unseres Programms einzuordnen.

Foto: Marija Kanizaj
Welche Bedeutung hat das herbstcafé (Neutorgasse 44) im Festivalgefüge?
Es ist es wichtig, einen niederschwelligen Startpunkt für den steirischen herbst zu haben. Das herbstcafé soll dieser „Entry-point“ sein. Es gibt Performances, Konzerte und DJ-Sets, aber natürlich bekommt man hier auch alle Informationen und Tickets. Außerdem bietet unter der Woche „The Underground Kitchen“ zwei täglich wechselnde Mittagsgerichte an, auch vegan. Es soll eben ein Treffpunkt, Ausgangspunkt, aber auch Endpunkt nach einem intensiven herbst-Tag sein.
NEVER AGAIN PEACE
Der provokante Titel des steirischen herbst ’25 wurde einem Theaterstück des deutsch-jüdischen Schriftstellers und Antifaschisten Ernst Toller entlehnt: „Nie wieder Friede“ (1934–36). Im Olymp wollen Napoleon und Franz von Assisi herausfinden, ob die Menschheit Krieg oder Frieden bevorzugt. Tollers Titel bezog sich auf die pazifistische Parole „Nie wieder Krieg“ aus der Zwischenkriegszeit.
Das vollständige Programm auf www.steirischerherbst.at