Still und malerisch von außen, innen ein Ort des Dialogs: Schloss Lind – das ANDERE Heimatmuseum zeigt Geschichte und öffnet sich unter Britta Sievers und Andreas Staudinger für Kunst und neue Perspektiven.
Text: Sigrun Karre
Was an dem Ort in St. Marein bei Neumarkt am meisten irritiert, ist diese friedliche Idylle, die sich über alles legt – als hätte die Landschaft beschlossen, die Geschichte zuzudecken. Der Blick reicht weit. Doch hier, auf einem Hügel am Eingang zur Olsabachklamm, liegt auch das Gewicht einer Vergangenheit, die nicht vergeht. Das Gebäude diente im Zweiten Weltkrieg als Nebenlager des KZ Mauthausen. Heute bewohnen und kuratieren Britta Sievers und Andreas Staudinger das Schloss – vom Frühling bis in den Spätherbst. Im Winter ist das Haus kaum beheizbar – zu groß, um es warmzuhalten. Der Schriftsteller und Theatermacher wollte nie Kurator sein – und ist es dann doch geworden.
Vergangenheit in Schichten
Das Anwesen vereint Jahrhunderte: Gotisches Mauerwerk trifft auf Renaissanceflügel, an der Seite eine barocke Kapelle – jede Epoche hat Spuren hinterlassen. Auch unter der Erde erzählt der Ort Geschichte: von römischen Grabsteinen, hallstattzeitlichen Hügeln und archäologischen Spuren. Manches wurde freigelegt, vieles bleibt verborgen. Ein Ort voller Schichten – im Boden wie im Denken. Die NS-Zeit gehört zu den dunkelsten darunter. In den 1990er-Jahren war Schloss Lind vom Verfall bedroht. Gerettet wurde es vom bildenden Künstler Aramis, bürgerlich Hans Peter Sagmüller. Er bewegte sich im Umfeld von Elfriede Jelinek, Otto Muehl, Günther Nenning und Hermann Nitsch, gründete mehrere Landkommunen – Schloss Lind war sein letztes Projekt. 1996 initiierte er hier das ANDERE Heimatmuseum, ein radikales Gegenmodell zur etablierten Erinnerungskultur. Es entstand ein Hybrid aus Gesamtkunstwerk, Gedenkort und künstlerischer Forschungsstätte. Das heutige Museum umfasst die Dauerausstellung Das Eigene & das Fremde, eine Gedenkstätte zur Geschichte des Mauthausen-Nebenlagers, Räume mit Installationen von Aramis, mehrere Galerien, ein Konzert- und Performanceforum sowie vier Bibliotheken. Rund um das Schloss: ein öffentlich zugänglicher Park mit thematischen Stationen wie dem Natur/Lab/oratorium, der Glashausgalerie und den fünf Turmgalerien. In den Sommermonaten finden Theater, Literatur und Performances statt – etwa im Rahmen des GEHmuSEHums.

Übergabe und Öffnung
Kurz vor seinem Tod – Aramis war schwer erkrankt – übergab er das Schloss und das gesamte Projekt an Andreas Staudinger und Britta Sievers. Bei der Übergabe war das Haus bis unter die Decke gefüllt mit Stacheldraht, Knochen, Stahlhelmen – ein durchkomponierter Erinnerungsraum von erschlagender Wirkung. „Man kann nicht einfach in eine Installation eingreifen – aber ich habe Räume geöffnet, Luft hineingelassen. Jetzt atmet es wieder.“ Fünf Jahre lang räumte Andreas Staudinger – ein Prozess des Loslassens und der Annäherung. Drei Räume blieben. Der Rest wurde heller, offener – mit Platz für Gegenwartskunst und Besucher. Der Ort trägt diese Spannung weiter: In den kühlen Kellerräumen ist noch die Schwere der Vergangenheit spürbar. Oben, zwischen Bücherwänden, Kunstwerken und einem Hausherrn mit Pfeife, herrscht eine eigentümlich anziehende Atmosphäre, in der Gespräche wachsen dürfen – oder einfach Stille. Aramis, 1950 geboren, war fünf Jahre älter als Andreas Staudinger – eine fast archetypische Figur. „Er hat alles aufgesogen, was an Zeitgeist greifbar war“, sagt er über seinen Vorgänger, der in den späten 1960er-Jahren in Wien aktiv war. 2017 – sieben Jahre nach dessen Freitod – erschien Andreas Staudingers Roman Paradiessucht. Das Buch ist als fingierte Autobiografie angelegt und nennt Aramis zwar nicht beim Namen, doch ist der Künstler unschwer wiederzuerkennen. Es ist eine Auseinandersetzung mit einem radikalen Lebensentwurf – und mit den politischen und kulturellen Ideen jener Generation. Paradiessucht ist kein Erinnerungsbuch, sondern die hochliterarisch verdichtete Form eines bestimmten Denkens und Erlebens: „Beim Schreiben wird man selbst überrascht – da wirkt etwas, das größer ist als man selbst“, ist der Schriftsteller überzeugt.

Foto: Staudinger
Trauma als Erbe und Aufgabe
Wer in Schloss Lind ausstellt, bekommt ein Honorar – für Andreas Staudinger selbstverständlich. „Wir sind das einzige Museum, das die Künstler bezahlt.“ Für viele ist das mehr als Symbolpolitik. Es ist ein stiller Grundsatz des Hauses: Kunst ist Arbeit – und Arbeit verdient Anerkennung. „Wir sind kein Holocaust-Museum. Aber die Geschichte bleibt immer Teil von allem, was wir hier tun.“ Kunst soll nicht überwältigen, sondern einladen. „Schocks interessieren mich nicht. Mich interessiert, ob man versteht und reflektiert.“ Auch seine familiäre Erfahrung prägt diese Haltung. „Meine Eltern- und Großelterngeneration war traumatisiert. Diese Traumata werden weitergegeben. Wer sie erkennt, kann sie auch durchbrechen.“ Er erzählt vom Trauma seines Vaters – nie ausgesprochen, aber immer mitgelebt. „Erinnerung funktioniert über unsere Körper. Nur wenn wir verstehen, warum wir so reagieren, können wir auch anders handeln.“ Schloss Lind ist kein leichter Ort. Nicht für seine Gäste – und nicht für jene, die es erhalten. Der Betrieb ist reduziert, vieles wird selbst gemacht. Der Tag beginnt oft mit handfesten Aufgaben. „Wir leben hier im feudalen Prekariat“, kommentiert er mit trockenem Humor. Mit dem Haus kamen die Menschen. Einige mit Fragen, andere mit Ideen, manche einfach nur im Vorbeigehen. Kein Ort für Massen, sondern für Begegnungen. Manche bleiben für ein Gespräch, andere bringen eine Ausstellung, ein Seminar oder ein paar Tage Zeit mit. Schloss Lind hält etwas aus. Die Vergangenheit, die Gegenwart, das Dazwischen – und das, was vielleicht noch kommt. Drinnen Gedächtnisstätte und Kunst, draußen wucherndes Grün – und noch mehr Kunst. Und irgendwo dazwischen Gespräche, die länger dauern als geplant und in denen Sätze fallen wie: „Am Anfang war es ein Zwitter, die allgegenwärtige Vergangenheit war kein einfaches Erbe. Heute ist es unser Haus. Wir lieben es.“

Foto: Staudinger