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„Gewohnte Ordnung funktioniert nicht mehr!“

Intendantin Ekaterina Degot Foto: Marija Kanizaj

steirischer herbst ’23: Von dämonischer Besessenheit bis hin zur reichhaltigen Kulturszene der Stadt Graz. Wir sprachen mit Ekaterina Degot, David Riff, Pieternel Vermoortel und Gábor Thury über das Programm des kommenden Festivals.

Interview: Stefan Zavernik

Die 56. Ausgabe des steirischen herbst steht unter dem Titel „Humans and Demons“. Was waren Ausgangsüberlegungen und Inspirationsquellen für die Auswahl dieses Themas?

Der steirische herbst spiegelt heuer die außerordentlich schwierige Situation wider, in einer Welt zu leben, die von zahlreichen Krisen geplagt ist. Wir kämpfen darum, menschlich zu bleiben und sind mit alten und neuen Dämonen konfrontiert. Die üblichen politischen Schemata und gewohnten moralischen Ordnungen funktionieren nicht mehr, auch nicht die, auf die sich die zeitgenössische Kunst stützt. Deshalb wollten wir etwas anderes versuchen. Humans and Demons verfolgt einen literarischen Ansatz, der vom Schelmenroman inspiriert ist, einer einflussreichen Form der Abenteuergeschichte, in der immer eine Außenseiterfigur im Mittelpunkt steht. Die vier Ausstellungsorte erzählen über die Stadt verteilt von vier Personen der jüngeren Geschichte, die mit Graz zu tun hatten. Und von ihren „Dämonen“ und wie diese heutzutage zurückkehren.

Meg Stuart, Shelf Life (2023), Standbild

„Humans and Demons“ präsentiert über vierzig Arbeiten, die größtenteils neue Auftragswerke sind. Können Sie uns einen Einblick geben, in welcher Art und Weise diese Werke die Themen des Festivals widerspiegeln?

Motive der dämonischen Besessenheit und der Heimsuchung ziehen sich als zentrale Metapher durch das ganze Programm und ziehen viele andere Themen nach sich. Der aktuelle Krieg in der Ukraine hat viele Dämonen geweckt – wie die Erinnerungen an den Holocaust, für den wir noch immer keine Sprache haben. Die ukrainische Künstlerin Dana Kavelina thematisiert einen der furchtbarsten Momente, den Holocaust in Lwiw, in einem Animationsfilm. Anton Kats, ein aus Cherson stammender Künstler, erinnert sich in einer Audioinstallation an die Rolle, die Jazz und Fusion in seiner Kindheit spielten. Die Orte dieser Kindheit sind nach der Sprengung des Kachowka-Staudamms überflutet und vom Krieg zerstört. Doch nicht alles dreht sich um den Krieg. Zwei neue Filme von Dani Gal befassen sich mit rassistischen Ressentiments, die mit der Faszination für Maschinen und der Rezeption von Musik verbunden sind. Aber auch andere Themen sind wichtig, wie zum Beispiel der drohende ökologische Kollaps durch ungebändigten Extraktivismus, den Alice Creischer in einer neuen Installation über den Traum von Freier Energie thematisiert. Oder wie die Alltagspolitik unserem Leben einen dämonischen Anstrich verpassen kann, was Jos de Gruyter & Harald Thys in ihren Arbeiten akribisch untersuchen. Das Festival erzählt von Menschen, die in Grauzonen leben, ganz explizit in Giacomo Veronesis Performance über Bewohner*innen der estnisch-russischen Grenzstadt Narva, die die Komplexität nationaler und kultureller Identitäten beleuchtet.

Performance von Mateja Bučar

„Humans and Demons“ bietet Anknüpfungspunkte, um Graz und seine Welt neu zu entdecken. Wie haben Sie die Stadt und ihre Geschichte in die Gestaltung des Festivals einbezogen?

Ein Festival wie der steirische herbst kann ohne den lokalen Bezug gar nicht funktionieren. Die vier Ausstellungsorte befinden sich an gegensätzlichen Orten in der Stadt, die es den Besucher*innen ermöglichen, die Stadt als Ganzes wahrzunehmen. Ein ehemaliges Callcenter in Mariagrün wird zu einem Radiosender. Das Forum Stadtpark wird zur Villa eines abtrünnigen Wissenschaftlers, Teile des Minoritenzentrums werden zur Bühne für die Ruinen der Moderne und ein ehemaliger Supermarkt in Gries wird zum U-Boot. Diese Fiktionen bestehen aus realen Geschichten von Menschen, die in irgendeiner Weise mit Graz verbunden sind – die Stadt selbst wird zu einer Figur in dem Projekt. Zwei Arbeiten befassen sich beispielsweise mit dem zum Abriss bestimmten Gebäude der Vorklinik: ein choreografisches Video von Meg Stuart und eine Installation von Andreas Fogarasi. Oder, um ein anderes Beispiel zu nennen, Mateja Bučar und Pavel Brăila haben beide neue Arbeiten über die Enteignung jüdischer Geschäftsleute in der Annenstraße im Jahr 1938 geschaffen.

„Das Böse nimmt heutzutage auch neue, verführerische Formen an“, haben Sie bei der Pressekonferenz erwähnt. Wie haben die Künstler*innen diese verführerischen Aspekte in ihren Werken aufgegriffen, und was können die Besucher*innen erwarten?

Die ungarische Choreografin Adrienn Hód untersucht zum Beispiel, was sich hinter einer verführerischen Kraft verbergen kann. Ihre Arbeit Voice of Power beschäftigt sich mit dem Zusammenstoß von Individuum und Autorität und setzt sich mit den Regeln und Strukturen, die unsere Gesellschaft ordnen, auseinander. In der Performance werden Zoltán Mizsei, ein experimenteller Kirchensänger, und Tänzer*innen in einen Dialog treten. Seine schöne, feierliche Stimme ist aber nicht nur harmonisch, sondern auch autoritär, willkürlich und – trotz ihrer verführerischen Kraft – unterdrückerisch. Ähnlich, aber auch ganz anders spielt Michael Portnoy mit dem Verführerischen in seiner absurd-komischen Performance, die im prunkvollen Großen Minoritensaal stattfindet. Selbstinszenierung war im Barock – als der Saal erbaut wurde – ein zentrales Thema. Im salonartigen Setting von The Society of Societies gelten ungewöhnliche und überraschende Sprach- und Benimmregeln, die die Verhaltensmuster unserer Zeit hinterfragen.

Giacomo Veronesi, Border EUphoria (2023)
Foto: Anita Kremm

Eine der Eröffnungsperformances behandelt ein kryptofaschistisches Soldatendenkmal auf dem Schloßberg. Was hat Sie dazu bewogen, solch ein kontroverses und aktuelles Thema in den Fokus des Festivals zu rücken?

Wie immer wollen wir unsere Aufmerksamkeit auf die vergessenen und verdrängten Dinge richten, auch wenn sie eigentlich nicht zentraler sein könnten. Dieses Denkmal hat einen sehr prominenten Platz auf dem Schloßberg und wird trotzdem von den meisten Besucher*innen ignoriert, da die Ästhetik der rohen Gewalt und militaristischen Männlichkeit, die dem klassischen Nazi-Ideal entspricht, zu verstörend ist. Die Eröffnungsperformance von Lulu Obermayer konfrontiert das Denkmal und behandelt dabei Themen wie Heldentum, Fragilität und toxische Männlichkeit.

In den Gruppenausstellungen stehen historische Figuren im Zusammenhang mit der Geschichte von Graz im Mittelpunkt. Wie wurden diese Figuren ausgewählt und was hat Sie an ihnen und ihrer Geschichte interessiert?

Unsere vier Charaktere sind sehr unterschiedliche Menschen mit ebenso verschiedenen Beziehungen zu Graz. Dietrich Schulz-Köhn (Dr. Jazz) war Mitbegründer der Internationalen Gesellschaft für Jazzforschung an der Kunstuniversität Graz, der er seine Plattensammlung stiftete. Stefan Marinov war ein bulgarischer Dissident und Physiker, der bis zu seinem Selbstmord 1997 in Graz lebte. Im Gegensatz dazu war die Malerin Mira Schendel kaum hier, über ihren Aufenthalt ist wenig bekannt. Frieda ist eine völlig fiktive Figur, die nur auf einer manipulierten Postkarte existiert. Was uns in allen Fällen am meisten interessierte, war, dass diese Figuren keine Held*innen waren, sondern irgendwie sehr menschlich in ihrem Versuch, sich in ihrer Zeit zurechtzufinden und sich durch Grauzonen zu bewegen, möglicherweise oft unbemerkt. Alle vier Figuren haben auch ein seltsames Charisma, ähnlich wie die Figuren aus Schelmenromanen.

Performance von Michael Portnoy

Einige der Ausstellungsorte sind verlassene Leerstände, die neu belebt werden. Wie haben Sie diese Orte ausgewählt und welche Rolle spielen sie in der Gesamterzählung des Festivals?

Es ging uns darum, den Konflikt zwischen Vormoderne und Moderne zu zeigen und wie Letztere in die eher vormoderne Struktur von Graz eingeschrieben ist. Das verlassene Callcenter in Mariagrün ist ein gutes Beispiel dafür: ein ultramodernes Bürogebäu­de, das in ein ansonsten mondänes Villenviertel eingefügt wurde. Auch das Forum Stadtpark ist ein seltsamer Einschub, eher utopisch und fast villenartig – ein Bild, das auf seltsame Weise im Widerspruch zum Ruf des Hauses als Institution der Gegenkultur steht. Das Minoritenzentrum liegt direkt am Fluss im Herzen der Stadt und unterstreicht die Bedeutung der katholischen Kirche und ihre Beziehung zu einer Moderne, die einen Großteil Europas in Trümmern hinterließ. Der Standort in Gries hingegen liegt in einem Gebiet, das in der Vergangenheit oft überschwemmt wurde und in dem Migrant*innen und auch Protestbewegungen zu Hause waren und sind. Der Besuch dieser verschiedenen Orte vermittelt ein neues Bewusstsein für die Klassenstruktur der Stadt, aber vielleicht auch für ihr unerwartetes Potenzial für Fantasie.

Neben den künstlerischen Darbietungen gibt es auch herbst-Specials, herbstbars und herbstclub-Veranstaltungen. Welche Bedeutung haben diese zusätzlichen Veranstaltungen, um das Festivalerlebnis für die Besucher*innen zu bereichern?

Es ist uns ein Anliegen, Orte zu schaffen, bei denen das Gesehene in einem lockeren Umfeld besprochen werden kann, zum Beispiel bei einer Pizza oder einem Getränk in unseren herbstbars – alle übrigens in der Nachbarschaft der Spielstätten und Ausstellungsorte. Nicht alle Festivalthemen und Projekte sind sofort greifbar. Hier helfen die vielen kostenlosen Veranstaltungen der herbstvermittlung. Und Musik hat schon lange eine große Bedeutung im steirischen herbst, allen voran durch das ORF musikprotokoll. Es freut uns, mit dem herbstclub im Anschluss an Performances diese Traditionen weiterzuführen.

Markus Sworcik und René Stiegler, Modell für Gedunkelfloxx Obsidian (2023)

Das Partnerprogramm umfasst eine Vielzahl von Kulturinstitutionen und Künstler*innen aus Graz und der Steiermark. Wie profitiert das Festival von diesen Kooperationen, und welche neuen Perspektiven bieten sie den Besucher*innen?

Es ist wichtig, dass ein Festival wie der steirische herbst auch die reichhaltige Kulturszene der Stadt einbezieht und die Themen widerspiegelt, die Kulturschaffende und Institutionen in Graz und der Steiermark beschäftigen. Heuer haben wir rund 25 Projekte im Partnerprogramm, darunter sind viele diskursive und literarische Formate, etwa von CLIO, den Writer(s) in Climate Crisis oder der Steirischen Gesellschaft für Kulturpolitik. Die manuskripte sind auch wieder Teil des Festivals, ebenso wie der Grundrechtstag 2023, der zuletzt 2015 im Rahmen des steirischen herbst in Graz stattfand. Mit Das Erdbeben in Chili bringen die Grazer Spielstätten eine moderne Volksoper des Griessner Stadl nach Graz. Das Theater am Lend zeigt Das Schiff des Theseus, Das Planetenparty Prinzip Who Wants to Be the Mum? und mit dem Schauspielhaus kooperieren wir für die österreichische Erstaufführung des Jelinek-Stücks Sonne/Luft. Und natürlich gibt es wie jedes Jahr viele Kooperationen im Bereich der bildenden Kunst, das Kunsthaus feiert z. B. sein 20-jähriges Jubiläum, hier haben wir gemeinsam eine neue Performance von Jasmina Cibic in Auftrag gegeben.

GreyNote

Abschließend, was erhoffen Sie sich von der Resonanz des Festivals „steirischer herbst ’23 – Humans and Demons“ in Bezug auf die angesprochenen Themen und die Interaktion mit dem Publikum? Wie soll das Festival die Teilnehmenden nachhaltig beeinflussen oder inspirieren?

Das Festival erkundet heuer zum sechsten Mal vergessene oder verdrängte lokale Geschichten und ­ihren Bezug zu großen globalen Themen. Dieses Gefühl, dass Prozesse auf der ganzen Welt verflochten sind, wollen wir unserem Publikum vermitteln, um Graz und die Steiermark noch weiter für die restliche Welt zu öffnen und auch die internationale Szene auf die Geschehnisse hier aufmerksam zu machen. Und natürlich wollen wir wie immer auch Künstler:innen helfen, neue, bedeutende Werke zu realisieren, und dem Publikum die einmalige Chance geben, sie zu erleben.               

Einen ersten Überblick über das Programm bekommen Sie auf den kommenden Seiten. Das komplette Programm gibt’s auf kuma.at oder auf www.steirischerherbst.at