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Die Abgründe der digitalen Welt

Sandwesten thematisiert permanente Unruhe, Angst und Zerstreuung, die einhergeht mit Ab-schottung und einem Festsitzen in der eigenen kleinen Welt

Wiederaufnahme von Lilly Jäckls Stück „Sandwesten“ im Theater im Keller. Es handelt von Rückzugsthematiken und zeigt mit Humor, was passiert, wenn Ruhigstellungsmittel nicht mehr gegen übersteigerte Gefühle helfen.

Text: Wolfgang Pauker

Das Stück Sandwesten aus der Feder von Lilly Jäckl feierte im Juni eine umjubelte Premiere und wird nun – nach der traditionellen Open-Air-Sommerproduktion des TiK – wieder in den Spielplan aufgenommen. Die Grazer Autorin behandelt darin Vereinsamung und Entfremdung, hervorgerufen durch die Digitalisierung und erheblich beschleunigt durch die Pandemie. Es geht um permanente Unruhe und Unsicherheit, um Angst und Zerstreuung, die einhergeht mit Abschottung und einem Festsitzen in sich selbst, der eigenen Wohnung, der eigenen kleinen Welt. „Auswuchernde bürokratische Anforderungen und mit der Vereinzelung einhergehende Kommunikationsprobleme wirken zusätzlich einschüchternd. Ein Teufelskreis“, so Alfred Haidacher, TiK-Mastermind und auf Wunsch der Autorin auch Hauptdarsteller.

Alfred Haidacher, Leiter des TiK, schlüpft in der Auftragsarbeit in eine Doppelrolle

Die neue Wirklichkeit

Das Thema ist ernst, die Herangehensweise aber äußerst kreativ und nicht ohne die notwendige Prise Humor. Haidacher spielt einen mit Wahrnehmungsstörungen behafteten Charakter, der am Cave Syndrom leidet, wie zahllose Menschen weltweit. „Diese Form des sozialen Rückzugs kann bereits als Teil des ‚New Normal‘ gesehen werden, da sich der ‚digitale Lebensmittelpunkt‘ für Millionen Menschen langfristig durchsetzen wird“, so Jäckl, die in ihrem Stück Parallelen zieht zu einer Vielzahl psychischer Erkrankungen und der explodierenden Produktpalette zur Linderung derselben. „Es wird aber keineswegs gehen die Segnungen der Digitalisierung gewettert, sondern gegen die Auswüchse, die uns ‚steuerbarer‘ machen“, so Haidacher.

ER, der auch SIE ist

„Er“, der im Home-Office durch das Stück führt, verkörpert auch sein eigenes, extrem strebsames Alter Ego: „Sie“. Dahinter steht der Chor, sinnbildlich für eine nervös-ängstliche Gesellschaft, die, anstatt Alternativen zur eigenen Unsicherheit zu entwickeln, eine Hinwendung zu anti-emanzipatorischen Strömungen vollzieht. Als „Er“, bereits sichtlich zerrüttet, auf Entspannungsmaßnahmen wie das Tragen von Gewichtsdecken oder Sandwesten nicht mehr anspricht, passiert ein Glücksfall: Der persönliche Kontakt mit dem Essenszusteller. Durch die Macht dieser Begegnung erkennt „Er“ schlagartig seine Handlungsfähigkeit und verlässt zum ersten Mal seit langer Zeit die Wohnung, um eine befreundete Arbeitskollegin aus den Fängen häuslicher Gewalt zu befreien.   

Termine: 21., 22., 23., 24., 28., 29., 30.9., 1.10., jeweils 20 Uhr

Theater im Keller
Münzgrabenstraße 35, 8010 Graz

www.tik-graz.at