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Das unsichtbare Universum

„Jeder baut sich selbst ein unsichtbares Universum in seinem Kopf, wie die Spinne ihr Netz“ Gerhard Roth

Am 8. Februar 2022 ist mit dem Schriftsteller Gerhard Roth auch ein Wegbegleiter unserer Zeitung verstorben. Aus den zahlreichen Interviews, die wir mit ihm als genialen Gesprächspartner führen durften, bringen wir zum Abschied eine Auswahl seiner Gedanken über das Schreiben, Fiktion und Wirklichkeit, das Leben und den Tod.

Gerhard Roth über sein Leben als Schriftsteller

­­             Man kann kein Künstler werden, es muss schon von Anfang an etwas im Kopf geben, das einen dazu macht. Ich bin in mein zweites Leben, das vielleicht mein erstes ist, hineingewachsen. Erst nachträglich ist mir bewusst geworden, dass es verschiedene Menschen, Begegnungen, Ereignisse gab, die alle eine gewisse Rolle gespielt haben und mir klargemacht haben, dass ich Schriftsteller bin.

Über das Schreiben

             Das Schreiben ist immer ein Versuch, das Leben zu verstehen, und es ist wohl nicht möglich, eine allgemein gültige Erkenntnis daraus zu gewinnen – abgesehen von Banalitäten.

Gerhard Roth in seinem Arbeitszimmer in Wien
Foto: Killmeyer

             Es ist immer dasselbe und doch immer anders. Ich erfahre aber jedes Mal, wenn ich mit einem neuen Buch beginne, dass ich ein Niemand bin, egal, ob ich eine Idee schon länger im Kopf habe oder ob sie mir spontan eingefallen ist. Das Schreiben kommt mir manchmal so absurd vor, als ob jemand allein eine chinesische Mauer bauen will, dann wieder gerät man in einen Zustand der Schwerelosigkeit, alles scheint einem zuzufallen. Das Unbewusste gehorcht eben nicht so, wie man es sich wünscht, man kann es nicht steuern, aber man ist darauf angewiesen.

             Das Schreiben bringt es mit sich, dass man zumeist aus einer Position der Schwäche heraus denkt, ohne dabei aber wehleidig zu sein. Selbstmitleid ist tödlich für einen schöpferischen Menschen, glaube ich, ebenso wie eingebildete Stärke oder Wichtigkeit.

             Die Arbeit an den Büchern erschöpft mich, gibt mir aber auch Energie. Es ist für mich gut, wenn ich beim Schreiben schon ein anderes Projekt wie einen Scherenschnitt im Kopf habe.

             Schreibschwierigkeiten sind wie eine Krankheit. Man muss sie annehmen und durchleben … ein Seiltänzer, der über die Niagarafälle gegangen ist, hat mir auf die Frage, wie er das durchgemacht habe, geantwortet, man dürfe niemals in die Tiefe hinunterblicken, sondern müsse immer das Ende des Seils im Auge behalten.

In der Nationalbibliothek

Über Fiktion, Wirklichkeit und Literatur

             Fiktion ist ein Wechselspiel von Wahrheit und Erfindung – das eine ist mehr oder weniger erfunden, das andere findet seine Entsprechung in der Wirklichkeit – daraus entsteht Literatur. Die Wirklichkeit soll wie erfunden sein und die Erfindung wie wirklich, das trifft auch auf mich als Autor, wenn ich mich zur literarischen Figur mache, zu. Im Übrigen können sich eigene Schwächen in der Literatur, wenn man aufrichtig ist, als besonders wertvoll erweisen.

Gerhard Roth über Lesungen

             Ich habe bei öffentlichen Auftritten, besonders bei Lesungen, viel Energie verbraucht. Ich habe nie einen öffentlichen Auftritt wirklich genossen – leider. Ich habe mich immer gut vorbereitet und andererseits auch das Geld gebraucht. Lesungen können einem Schriftsteller vorgaukeln, er sei etwas Besonderes – aber das sind Illusionen. Worauf es ankommt, ist das Schreiben selbst. Die eigentliche Belohnung ist der Arbeitsprozess, auch wenn er zerstörerisch sein kann. Ich möchte mich in meinen letzten schöpferischen Jahren darauf konzentrieren.

Unter seinem geliebten Nussbaum

Über das Paradies

             Ich denke, wir alle wissen, dass es das Paradies nicht gibt. Wir alle wissen, dass das Paradies eine Fälschung ist. Und wir alle wissen auch, dass wir ohne Vorstellung des Paradieses eigentlich ein armes Leben führen würden.

Gerhard Roth über die Existenz als Labyrinth

             „Das Labyrinth“ wurde mir zum ersten Mal bewusst, als ich in der Zeit meines Medizinstudiums ein menschliches Gehirn seziert habe. Welche Gedanken, Wahrnehmungen, Gefühle waren durch es hindurchgegangen?, fragte ich mich. Das Gehirn selbst ist ein Labyrinth und es sieht auch labyrinthisch aus. Ich habe dann erkannt, dass das Leben genauso labyrinthisch ist wie das Gehirn. Der Gedanke hat mich so sehr beschäftigt, dass ich das Praktikum ein Jahr später wiederholte. Nicht jedes Labyrinth interessiert mich gleichermaßen, ich habe beispielsweise Gärten, die Labyrinthe sind, eher gemieden. Im Allgemeinen reicht mir das Leben selbst, das ich im Voraus oder nachträglich als Labyrinth erkenne. Zum Lebenslabyrinth gehören für mich vor allem Zufälle. Zum Beispiel hatte ich zwei Namensdoppelgänger im Laufe meines Lebens: Einen Gerhard Roth, Techniker und Forscher im Rechenzentrum Graz, geboren 1942 wie ich, der mir ein halbes Jahr lang und einmal wöchentlich das Labyrinth der neuesten Erkenntnisse und Spekulationen aus dem Bereich der Physik und Astronomie erklärte, damit ich verstünde, warum es keinen Gott gäbe, bis ich aufgrund der immer komplizierter werdenden Vorträge vom Atheisten, der ich bis dahin war, zum Agnostiker wurde. Dann lernte ich – allerdings nur über seine zum Teil großartigen Bücher – den Hirnforscher Gerhard Roth kennen, der – ebenfalls 1942 geboren – meine Kenntnisse über das labyrinthische Gehirn enorm erweiterte, aber an der Frage nach der Schuldfähigkeit bei einem Verbrechen in eine Sackgasse geriet. Beide Gerhard Roth sind oder waren exzellente Denker, aber sie gerieten in die Falle der naturwissenschaftlichen Logik. Ich selbst irre mich natürlich auch immer wieder. Es gibt keinen Ausweg aus dem Labyrinth, in das man hineingeboren wird. Man erfasst immer nur größere oder kleinere Fragmente eines Ganzen oder man bedient sich einer der Fließbandideologien, die für alles eine Lösung anbieten.

Über das Reisen

             Es ist anregender, in der Fremde zu sein als zu Hause. Ich lebe, wenn ich reise, in einem Zustand gesteigerter Aufmerksamkeit für alles, was mich umgibt. Es ist Wach-Sein wie in Trance. Ich mache dann Aufzeichnungen und fotografiere und erfahre mich dabei besser als sonst.

             Wohin ich auch komme, entdecke ich Neues. Es ist das Reisen selbst, das mich anregt. Wenn ich in ein fremdes Land komme, schärft gerade die Fremdheit meine Wahrnehmung, und je mehr ich sehe, höre und erfahre, desto mehr suche ich das Neue, Fremde.

Über Hobbys

             Nein, ich habe keine Hobbys, auch keine literarischen. Ich habe eine Abneigung gegen Hobbys, mich langweilen Leute mit Hobbys oder „Steckenpferden“, wie man es früher nannte.

Über die Gugginger Künstler

Mich hat dann die Begegnung mit den einzelnen Künstlern, wie Walla, Tschirtner, Garber, Fischer oder dem Dichter Edmund Mach beeindruckt und ich wollte sie näher kennenlernen. Daraus ist dann in vielen Jahren und nach vielen Besuchen eine eigene Beziehung entstanden … Ich war nicht der Einzige, der damals die Gugginger Kunst geschätzt hat, andere Künstler und Schriftsteller, wie Ernst Jandl, Gert Jonke, Friederike Mayröcker, Arnulf Rainer, Peter Pongratz oder Franz Ringel, hat es ebenfalls zu ihnen hingezogen. Aber nur Arnulf Rainer und ich sind übrig geblieben. Die Bilder, die Kunstwerke strahlen eine große Kraft aus, vermitteln Energie und rufen Erstaunen hervor. Das hat schon sehr früh der französische Maler Jean Dubuffet erkannt und gespürt, der dann den Begriff ART BRUT geprägt hat.

Die Gugginger Künstler zu Gast bei Gerhard Roth in St. Ulrich in Greith

Über das Leben

             Das Leben ist eine unüberschaubare Summe von Momenten, von Episoden und Perioden. Es gibt häufig keine logische Kette einer Entwicklung, sondern es besteht oft nur die immer wiederkehrende Möglichkeit, andere Entscheidungen zu treffen.

             Wenn ich alle Zufälle anführe, die ein Leben ausmachen, dann wird man mit seinen Aussagen bescheiden.

             Jeder baut sich selbst ein unsichtbares Universum in seinem Kopf, wie die Spinne ihr Netz.

Gerhard Roth über den Tod

             Der Tod ist immer gegenwärtig, auch wenn wir ihn verdrängen. Wenn geliebte Menschen sterben, ist das eine Art Weltenende. Für die Verstorbenen und in anderer Form für die Hinterbliebenen. Ich habe eine viel größere Angst vor dem Tod eines geliebten Menschen als vor dem eigenen.Über die Gugginger Künstler

Gerhard Roth am Wiener Zentralfriedhof