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Wie wir nicht leben wollen

Urbane Verdichtung in Liebenau. Schöne Zukunftsmusik oder dystopischer Alptraum?

Musikproduzent Georg Hartwig zeigt in der App „Dystoptimal“ Graz von einer ganz anderen Seite. In 17 dystopischen Zukunftsvisionen beleuchtet er die Frage des Kulturjahrs 2020 „Wie wir leben wollen.“

Text: Yasmin Al-Yazdi

„Wie wir leben wollen?“ lautet die zentrale Frage hinter dem Kulturjahr 2020. Hat dich diese Frage als Künstler schon länger beschäftigt?

Das beschäftigt hoffentlich jeden. Es ist eine generelle essenzielle und existenzielle Frage. Wenn diese Frage mit der eigenen Arbeit verbunden ist, wie jetzt beim Kulturjahr, dann macht man sich natürlich noch mehr Gedanken, was Entwicklungen betrifft, ob diese gut sind, wohin sie führen und wo man selbst hinmöchte.

Dein Projekt beschäftigt sich quasi mit dem Gegenteil von dem, wie wir leben wollen. Nämlich damit, wie wir nicht leben wollen: Wie entstand die Idee zu „Dystoptimal“?

Eine Utopie zu entwerfen, wäre schwieriger gewesen, da es schwer ist, etwas zu finden, was für viele interessant sein könnte. Bei einer Dystopie hat man zwar eine Richtung, in die man nicht möchte, aber diese ist zumindest nicht vorgegeben. Eine Utopie sagt: „Komm zu mir“, wohingegen eine Dystopie eher „Geh weg!“ signalisiert. Sie lässt dem, der sie wahrnimmt Freiraum. Darum geht es auch in der App: Fragen zu stellen und zu reflektieren, ob wir etwas als Gesellschaft forcieren oder doch Alternativen finden möchten.

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Unglücklich sein ist auch ein Thema, mit dem sich die App beschäftigt.

Genau. Unter der sogenannten Happy-Corporation wird einem Glück quasi aufoktroyiert. Alles ist wunderbar und großartig und man darf nicht schlecht gelaunt sein oder Probleme haben, das wird hier weggeblendet. Bei der Auswahl der Themen haben wir generell versucht, für uns akute Fragestellungen zu beleuchten. Fragen der urbanen Verdichtung, der (freiwilligen) Überwachung des sozialen Umfelds, der Hyperkommerzialisierung oder auch ganz generell die Frage der Definition von Ästhetik.

Wie aufwendig war es, die App zu erstellen, wie lange wurde daran gearbeitet und welche Technik steht dahinter?

Wir haben im August letzten Jahres begonnen, nachdem wir im Juli die definitive Zusage für das Projekt hatten. Angefangen haben wir mit den Narrativen, um herauszufinden, was technisch durchführbar ist, da viel auch von Datenvolumen und Download-Möglichkeit abhängt. Dann haben wir langsam versucht, unser Design zu finden, und erst in den letzten drei bis vier Monaten hat dann das wirkliche Programmieren begonnen. Das Team mit 16 Mitgliedern ist doch ziemlich groß, aber dadurch, dass nicht alle permanent daran gearbeitet haben, blieb es trotzdem überschaubar. Es war wirklich großartig, mit ihnen zu arbeiten. Jetzt ist die App seit letzter Woche online und ist bis Mitte nächsten Jahres ausgewiesen, jedoch haben wir vor, sie auch darüber hinaus weiterlaufen zu lassen. Technisch gesehen, arbeitet die App nicht über die Kamera des Endgerätes, da das auch rechtlich beziehungsweise bei der App-Gestaltung viel aufwendiger gewesen wäre, sondern der User erlebt eine Fake oder Virtual Reality der Straßenfluchten und Häuserfronten, die ihn 360° umgeben. Für ein optimales Erlebnis haben wir hierfür exakte Punkte am Boden markiert. Wahrscheinlich wird der eine oder die andere UserIn die Baudichte in Graz etwas überraschen. Aber wie Norbert Hofer schon gemeint hat: „Sie werden sich noch wundern, was alles möglich ist.“

Die Zukunft schon heute in der Hand. 17 dystopische Szenarien hinterfragen nicht nur, wie wir leben wollen. Alles schön happy?

Die Szenarien erinnern an Filme und Bücher. Gab es da konkrete Vorbilder oder nach welchen Ideen wurden diese entworfen?

Grundlegend sind wir bei den Renderings (Bildsynthese, Anm. d. Red.) der Szenen schon von Kinofilmen ausgegangen, da es auch spannend ist, solche Szenarien zu schaffen. Aber im Weiteren sind auch Themen aufgekommen wie Klimawandel oder Überwachung, deren Ausarbeitung für die Beteiligten nicht so faszinierend war. Es gab auch architektonische Ideen, von welchen aus wir dann den ­narrativen Überbau gemacht haben und woraus sich viele Szenarien entwickeln konnten. In Andritz gibt es zum Beispiel eine Szene, in der man fiktiv durch Gesichtserkennung sein Umfeld unter anderem nach sexueller Orientierung oder Kontostand durchleuchten kann. Ähnliche ­Gesichtserkennungssoftware gibt es schon in China.

Läuft unsere Gesellschaft tatsächlich Gefahr, in einer Alptraum-Utopie zu enden? Für wie realistisch hältst du deine virtuellen Realitäten in der App?

Ich glaube, wir sind gar nicht so weit davon entfernt. Aber ich denke, wir haben noch die Fäden in der Hand zu entscheiden, in welche Richtung es weitergehen soll. Wir hatten sogar überlegt, ein Virus-Szenario einzubauen, ­haben es aber wieder verworfen, da wir momentan einfach zu nahe an dem Thema sind und es zu brutal gewesen wäre. Vor dieser Thematik hatten wir sogar ein Szenario mit großen Werbescreens, auf denen Kinder mit Schutzmasken abgebildet waren, aber das war nur Zufall.

Nach welchen Kriterien wurden die 17 Orte in Graz ausgewählt?

Das war eine Mischung aus mehreren Parametern. Einerseits war es Teil der Ausschreibung, Leute an Orte zu bringen, die nicht zu den klassischen Spots in Graz gehören, wie dem Uhrturm oder dem Kunsthaus. Natürlich war es auch wichtig, dass die Nutzerinnen und Nutzer der App leicht zu den Locations gelangen. So ist der Großteil auch öffentlich zu erreichen. Andererseits haben wir Orte gesucht, welche man direkt in die Szenarien einbinden kann, wo viel von der Umgebung verwendet werden konnte und wo es auch genügend Platz gab für ein 360°-Bild. Es ist viel aufwendiger, wenn man von einem Bild viel freistellen muss, wie Bäume oder Ähnliches, auf der anderen Seite ist es deutlich leichter, etwas bereits Vorhandenes fotografieren zu können, als es selbst in einer Rendering-Software zeichnen zu müssen. Aus den drei Teilmengen haben wir die Orte dann ausgesucht.

Hast du auf die Frage „Wie wir leben wollen?“ ein paar Antworten erhalten?

Ich denke, dass das User-Verhalten mit unseren Endgeräten sehr naiv und blauäugig ist. Zum Beispiel wenn wir uns überlegen, wie viele Daten wir freigeben und wieso es uns so leicht gemacht wird, sie so schnell offenzulegen. Ich habe überhaupt keine privaten Sachen in sozialen Medien und von Facebook bin ich sowieso weg. Ich will das auch gar nicht werten, man sollte sich aber definitiv mit der Frage beschäftigen, ob man das will oder nicht. Das ist für mich dabei rausgekommen.

Wie viel kann die Kunst beitragen, dass die Welt eine bessere wird?

Es gab immer die Hoffnung, dass die Kunst dazu etwas beiträgt, aber ich muss sagen, dass Kunst leider oftmals etwas Elitäres ist. Man kann nur hoffen, dass sie in gewissen Punkten einen Ausstrahlungseffekt hat, aber ich habe nicht die große Illusion, dass es dadurch zu einer gesellschaftlichen Umwälzung kommt. So großartig es wäre, aber das ist erst selten passiert in der Geschichte. Wenn es zumindest ein paar Leute zum Nachdenken anregt, dann bin ich schon ganz zufrieden.

Für eine gute Orientierung zeigt der Stadtplan die 17 Dystoptimal Standorte in Graz